Über Cyprien Gaillards künstlerische Praxis: Die Poesie der Entropie
Seit Cyprien Gaillard (*1980) gegen Ende der Nullerjahre mit spektakulären fotografischen und videobasierten Arbeiten wie Real Remnants of Fictive Wars (2003/08) oder Desniansky Raion (2007) einem breiteren Publikum in Erscheinung trat, zählt er zu den profiliertesten Positionen der zeitgenössischen Kunstszene. Mit seinen zunehmend monumentalen 3D-Filminstallationen lotet Gaillard die skulpturale Qualität bewegter Bilder aus, während er in skulpturalen Interventionen Vergessenes freilegt – etwa einen deutschen Militärbunker an der niederländischen Küste ausgräbt (Dunepark, 2009) – oder in sozialen Plastiken zur Partizipation am Verfall einlädt.
In seiner Lehre gehe es ihm darum, die Augen zu schärfen – das sei das, was er selbst seit mehr als zwanzig Jahren jeden Tag versuche, sagte der in Paris und Berlin lebende Künstler kürzlich im Interview mit dem Wochenmagazin Die Zeit. Er müsse draußen sein, in den nun 20 Jahren seines Kunstschaffens habe er nicht eine einzige Idee für eine Arbeit im Studio gehabt, sondern immer draußen, beim Herumstreifen durch den städtischen Raum – dort, wo Geschichte vor Ort stattfindet. Gaillards Praxis ist so etwas wie eine Archäologie der jüngeren Geschichte und ihrer oft skurrilen Schichtungen. Sein Interesse gilt dabei insbesondere den Trümmern der Moderne, den Schnittstellen und Überlagerungen zivilisatorischer und natürlicher Geografien und der damit verbundenen Psychologie von Orten. Die dreiteilige Filmopera Desniansky Raion, eine Kooperation mit dem Musiker Koudlam, wurde an Schauplätzen in Serbien, Russland, Frankreich und der Ukraine gedreht. Triste Häuserblocks in St. Petersburg bilden die Kulisse für Straßenschlachten jugendlicher Gangs, von der Kamera in Szene gesetzt wie die Schlachtenbilder des 18. Jahrhunderts. In einem Pariser Vorort filmte Gaillard in die kontrollierte, durch eine multimediale Lightshow noch zusätzlich spektakulär inszenierte Detonation eines modernistischen Wohnkomplexes – das Schauspiel sollte wohl Anwohner*innen für den Verlust kompensieren. Im dritten Akt erinnern Luftaufnahmen des Kyiver Stadtteils Desniansky an das archaische Stonehenge. Derlei Anachronismen ziehen sich durch Gaillards Werk. „Das Zukünftige sei nur die Umkehrung des Veralteten“, statuierte Wladimir Nabokov – ein Lieblingszitat auch von Robert Smithson, einem erklärten Vorbild Gaillards. Die mal meditative, mal hypnotisch-treibende Musik Koudlams wiederum findet ihre Referenz in Philip Glassʼ Soundtrack zu Godfrey Reggios Koyaanisqatsi (1982). In der nonverbalen Erzählung des Films, dem Wechsel von Zeitlupe und Zeitraffer-Aufnahmen sowie der übergreifenden Thematik – dem menschlichen Einfluss auf die Natur – kann Koyaanisqatsi in vielerlei Hinsicht als einflussreich auf Gaillards filmisches Werk gesehen werden, nicht zuletzt in den Aufnahmen der ikonischen Sprengung des Pruitt-Igoe-Wohnkomplex in St. Louis von 1972, der Gaillard einen eigenen Film widmete (Pruitt-Igoe Falls, 2009).
Unvergessen in Berlin ist die Installation The Recovery of Discovery, die er 2011 im Erdgeschoss des KW Institute for Contemporary Art errichtete. Blaue Pappkartons mit insgesamt 72.000 Flaschen der türkischen Biermarke Efes – benannt nach der antiken griechischen Stadt Ephesus in Kleinasien, der heutigen Türkei – wurden zu einer monumentalen Pyramide errichtet, auf deren Stufen sich Besucher*innen niederlassen konnten, um sich während der Laufzeit von zwei Monaten an dem Bier zu bedienen. Zurück blieb ein Schlachtfeld aus zerrissenem Karton, leeren und kaputten Bierflaschen und der Geruch von schalem Bier und kaltem Rauch. Neben dem Rausch zelebrierter Entropie verwies die Arbeit auf kolonialen Kulturraub und den oft fragwürdigen Umgang mit Kulturgütern – etwa am Beispiel des Pergamon Altars aus der gleichnamigen, kleinasiatischen antiken Stadt, der in den 1880er Jahren exkaviert und in Einzelteilen von seinem Originalstandort auf die Berliner Museumsinsel verfrachtet und teilrekonstruiert wurde (wie auch das babylonische Ischtar-Tor, dessen blaue Farbe ebenfalls in der Skulptur anklingt).
Das „High and Low“ hat für Gaillard nicht nur im kulturellen Sinn Bedeutung, sondern wird auch wörtlich erprobt. In stereoskopischen 3D-Filmen erhält der sezierende Blick durch moderne Technologie geradezu übermenschliche Qualitäten, gleitet in rasanten Fahrten aus schwindelerregender Höhe hinab in den Untergrund, geht durch Mauern und dringt bis in das Innenleben seiner Sujets ein – sei es ein Feuerwerk, das Innere eines Altglas-Containers oder der Kopf einer Monumentalplastik.
Gaillards erster 3D-Film, Nightlife (2015), wurde über zwei Jahre hinweg ausschließlich nachts gedreht und verband Szenen aus Cleveland, Los Angeles and Berlin zu einer komplexen Erzählung des Widerstands. Der Film beginnt mit einer Einstellung auf Rodins Skulptur Le Penseur (1880), die 1970 durch einen Sprengstoffanschlag der radikalen Untergrundbewegung The Weather Underground in Cleveland teilweise zerstört wurde. Zu dem hypnotischen Soundtrack der endlos geloopten und technisch verfremdeten Worte „I Was Born A Looser“ aus Alton Ellis’ Blackman’s Word, einem Klassiker des Jamaikanischen Rocksteady, bewegen sich die Blätter der Hollywood Juniper-Palme im Wind, einer nicht-indigenen Baumart, die anlässlich der Olympischen Spiele von 1932 nach Los Angeles eingeführt wurde. Nach einer spektakulären Drohnenfahrt durch ein nächtliches Feuerwerk schwenkt die Kamera nach unten auf das beleuchtete Berliner Olympiastadium und erinnert an die Olympischen Spiele von 1936, bei denen der Schwarze Athlet Jesse Owens vier Goldmedaillen gewann. Außerdem nahm er einen Eichensetzling mit zurück in seine Heimatstadt Cleveland und pflanzte ihn vor seinem Heimatstadion ein.
Gaillards jüngste 3D-Filminstallation Retinal Rivalry (2024) verzichtet auf eine in sich geschlossene Narration. Die technischen Möglichkeiten aufwendiger Filmproduktionsmittel auslotend, begibt sich der Film auf eine Reise durch Deutschland, auf der Suche nach dem Obskuren am Rande der Touristenpfade. Der Titel verweist auf das verwirrende Phänomen visueller Wahrnehmung, das auftritt, wenn das Auge zwei widersprüchliche Bilder zur gleichen Zeit empfängt. Die 3D-Filmindustrie nutzt die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, aus zwei Bildern eine dreidimensionale Szenerie zu erzeugen. Er habe das Gefühl, dass der psychedelische Affekt von 3D im Mainstream noch nicht ausreichend erforscht wurde, sagt Gaillard, und fordert den neuronalen Trick mit speziellster Technik heraus. Gefilmt mit zwei Arri Alexa 35 Kameras in einer Auflösung von 4K und 120 Bildern pro Sekunde (im Standardkino sind es 24) erzeugt der Film eine hyperreale bis surreale Seherfahrung. Eine der ersten Einstellungen zeigt leere Flaschen in einem Altglas-Container. Dass diese in Deutschland wie ein Tonstudio schallgedämpft sind, ist ein Detail, das seiner durch Interesse an Materialität geschulter Aufmerksamkeit nicht entgeht.
Eine „Affenkapelle“ aus Meissner Porzellan mischt sich in Überblendung unter die leeren Flaschen, die wiederum die Eisformationen von Caspar David Friedrichs Das Eismeer (1823/24) evozieren. Dann entleert sich der Container und die runde Öffnung wird zum Vollmond in der Dunkelheit. Immer wieder kehrt der Film zum Münchner Oktoberfest zurück, dessen nächtlich beleuchtete Kulisse mit Riesenrad wir aus 18 Meter Höhe durch zwei Löcher im Helm der Bavaria sehen, während unter ihr, auf dem sogenannten Kotzhügel am Rande der Theresienwiese, ein Besucher in volkstümlicher Tracht seinen Rausch ausschläft – zu Fuße eines Baums drapiert wie eine Figur aus einem Bruegel-Gemälde. Auf dem Display eines verlorenen iPhones pulsiert ein leuchtendes 3D-Mandelbrot Fraktal, bevor es durch ein Treppenhaus in abgründige Tiefe stürzt – wir finden uns wieder unter dem Kölner Dom, wo sich in den Ruinen der antiken Stadtmauer, die einst das militärische Hauptquartier der römischen Provinz Germania inferior umgab, heute eine Tiefgarage befindet. In vermüllten Ecken liegt Junkbesteck, unter Gittern klebt ein ACAB-Sticker. So geht die psychedelische Deutschlandreise weiter, ständig die Perspektive wechselnd und gegenläufigen Bewegungen folgend, hinaus- und hineinzoomend in die oft grotesken Überlagerungen deutscher Geschichte zwischen Romantik und NS-Zeit, Trash und Erhabenheit. Wir blicken in die ikonischen Felsformationen der Sächsischen Schweiz mit der Bastei, deren Mauern hinter Plexiglas geschützt sind, und begegnen schrägen Skulpturen, die den öffentlichen Raum deutscher Innenstädte schmücken – etwa Karl-Henning Seemanns Brunnenskulptur Kreislauf des Geldes (1976) in Aachen, ein Geschenk der örtlichen Stadtsparkasse. Am ehemaligen Trafohaus des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes verweist Leuchtreklame auf einen darin befindlichen Burger King, während der Reichsadler noch als Schatten an der Fassade erkennbar ist. Und plötzlich assoziieren auch die roten Fahnen an der Fassade einer Sparkassenfiliale andere Bilder – untermalt von düsteren Klängen. Der Soundtrack speist sich aus unterschiedlichen Quellen – sudanesische Instrumentalmusik oder Sequenzen aus Werner Herzogs Aguirre, der Zorn Gottes (1972) –, die jedoch keine Verbindung zu den gezeigten Bildern haben. Außer an der Stelle, als ein geschientes Bein das Pedal einer interaktiven Orgel bedient und stockend Orgelklänge von Johann Sebastian Bach erklingen. Wieder in München tastet die Kamera die Devotionalien und laminierten Fotografien des von Fans um den Sockel der Statue des Renaissance-Musikers Orlando di Lasso errichteten Michael-Jackson-Memorials vor dem Bayrischen Hof ab – so nah, dass jeder Lichtreflex in der Folie zum visuellen Ereignis wird. Zuletzt erscheint in zuckender Überblendung eine japanische Edo-Elfenbeinplastik, die in karikaturesker Überzeichnung einen niederländischen Bauern darstellt – der exotisierende Blick wird hier zurückgeworfen.
Eva Scharrer ist Kunsthistorikerin, freie Autorin und Kuratorin und lebt in Berlin.
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