Gesundheit im Archiv der Gegenwart
Künstlerische Forschung bewegt sich jenseits klassischer Disziplinen – zwischen Archiv, Alltag und ästhetischer Opazität. Künstler*innen wie Allan Sekula, Andrea Fraser oder Forensic Architecture stellen mit ihren Arbeiten nicht nur Fragen nach Wahrheit und Darstellung, sondern auch nach der Rolle von Kunst in gesellschaftlichen und ökologischen Umbrüchen. Und manchmal ist genau das, was nicht auf den ersten Blick als „Kunst“ erscheint, besonders wirksam
Sara Hillnhütter
Rosalind Krauss bemerkte, gegenwärtige Kunst hätte etwas „Fotografisches“ angenommen. Mit dieser eher diffusen Zustandsbeschreibung markierte Krauss einen ästhetischen Wandel in der Nachkriegszeit. Dabei trat, zumindest vordergründig, die handwerkliche Gestaltung als Bewertungsmaßstab in den Hintergrund. In der Kunstgeschichte tut man sich mitunter schwer mit künstlerischen Projekten, die sich um neue ästhetische Form- und Wissenskonstellationen bemühen. In seinem Text An Archival Impuls von 2004 monierte Hal Foster ironisch „Consider a temporary display cobbled together out of workday materials like cardboard, aluminum foil and packing tape […] like a homemade study shrine, with a chaotic array of images, texts, and testimonials […].“[1] Foster spricht, neben der ästhetischen Strategie des „archival impulses“ in der Kunst, die fehlende Unterscheidbarkeit zu anderen Wissens- und Lebensbereichen an. Sein Text zielt zwar darauf ab, recherchebasierte Kunst theoretisch zu fassen, sprich zu kanonisieren, zeigt aber deutlich mit seinem gedanklichen Einstieg, wie die Welt der Academia auf offene Gestaltungsprozesse in künstlerischen Recherchen blickt.
Den Projekten im Bereich der künstlerischen Forschung ist stets eine institutionelle Kritik immanent, die sich auch gegen eine Historisierung in der Kunstgeschichte stellt. So publizierte die Künstlerin Andrea Fraser 2016 zur ersten Wahl von Donald Trump ein Buch über die Verbindungen von Museen und anderen Kunstinstitutionen in den USA zum Weißen Haus. Fraser zeigt mit ihrer Recherche, die nach dem Motto follow the money funktionierte, wie abhängig der Kunstbereich von rechtspopulistischer Politik ist. In die ästhetische Gestaltung wirkt die Recherche als starker formgebender Motor, wie auch bei der Künstler*innen-Gruppe Forensic Architecture, die praxisbasiert, anhand von digitaler Bildanalyse, Daten über aktuelle Kriegs- und Unrechtszenarien sammelt. Bei der Besprechung solcher Projekte kommt stets die Frage auf: Ist das noch Kunst? Tatsächlich erstellt, die Forscher*innengruppe Forensis (eine Dependnce von Forensic Arcitecture in Berlin) im Auftrag von Betroffenen auch Bildmaterial, das vor Gericht verwendet wird, zum Beispiel über die rassistisch motivierten Morde in Hanau.
Künstlerische Forschung dokumentiert unsere gesellschaftliche Gegenwart. Gerade in dem Durchwandern verschiedener Deutungs- und Verwertungsbereiche liegt ihre ästhetische Wirkkraft. Die Künstlerin Lucy Cotter formulierte, dass Form und Oberfläche, Zeigen und Verstecken das eigentliche Handwerkszeug von Künstler*innen ist. So schreibt sie prägnant: „representation affects thought.“[2] Das heißt auch außerhalb der erwartbaren Kontexte für Kunst verliert ein Werk nicht den Kunst-Status: “Artist use artistic criteria to establish the parameters and form of their research. Artistic research is thus not separable phenomenon from art itself.”[3] In dem von Cotter herausgegebenen Sammelband Reclaiming artistic research (siehe auch unsere Reading List auf S. …) reagiert sie auf die Vereinnahmung der künstlerischen Forschung für vermehrt akademische Belange.
Eine Arbeit wie Allan Sekulas Fish Story (1995), die 2002 auf der Documenta 11 gezeigt wurde, verdeutlicht, wie komplexe Konstellationen von menschlicher Arbeit, Lebensmittelindustrie und Welthandel zusammenhängen, ohne diese Themen explizit zu machen. Gesundheit als ökologisches und humanistisches Konzept wird hier wie nebensächlich evident. Aus der Konstellation von Sekulas Fotografien ergibt sich eine gedankliche Iteration zwischen den Handelsschiffen, den Menschen, die darauf arbeiten, den Fischen und dem Ozean. Die Arbeit geht weit über die ihr zugrunde liegende Beobachtung und Recherche hinaus, ihr dokumentarischer Charakter endet nicht in fotografischer Kontingenz oder pädagogischen, lösungsorientierten Reflektionen. Vielmehr bietet sie ein Beispiel dafür, wie Künstler*innen Recherche präsentieren, ohne dem Publikum Hinweise und Interpretationen zu liefern. Es werden bewusst Leerstellen erzeugt und Dinge im Ungreifbaren gelassen. Epistemische Opazität gehört zu künstlerischer Forschung, wie das vielbeschworene „Sichtbarmachen“ gesellschaftlicher Machtverhältnisse.[4] Die Beiläufigkeit ästhetischer Aspekte kann dabei als Tarnung, als Trojanisches Pferd begriffen werden, mit dem sich bildende Künstler*innen in andere gesellschaftliche Sektoren begeben.
1946 definierte die Weltgesundheitsorganisation Gesundheit als „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“. Die Gesundheit „aller“, stellte eine wirkmächtige Definition dar, ein universales und fortschrittliches Konzept, das über Nationen- und Kulturgrenzen hinweg Gültigkeit besitzen sollte. Universelle Konzepte haben häufig den Nachteil, dass sie essentialistisch wirken und den technischen Machbarkeitsglauben befördern. Wie in vielen Wissensbereichen untersteht auch unser Gesundheitssystem einer „epistemischen Politik“[5], welche soziale Minderheiten benachteiligt.[6] Bereits während der Epidemie wurde deutlich, dass Gesundheit ein soziales Privileg ist. Bei dem Erreger, der das Syndrom auslöst, handelt es sich um eine Zoonose, also einen Virus, der von Tieren auf den Menschen übertragen wurde. Lange vor der Corona-Pandemie wurde damit das Konzept von Gesundheit als ein menschliches Privileg fraglich, aber die Pandemie des COVID-19 Erregers hat für kranke wie für gesunde Menschen gleichermaßen deutlich gemacht, dass Medizin eine sozio-politische Struktur ist, die nicht allein die Lebenswelt kranker Menschen bestimmt. So publizierte die WHO im Jahr 2020 als Reaktion auf die Pandemie einen neuen Gesundheitsbegriff, der sich auf ökologische Bedingungen bezieht:
„One Health is an integrated, unifying approach that aims to sustainably balance and optimize the health of people, animals, and ecosystems. It recognizes the health of humans, domestic and wild animals, plants, and the wider environment (including ecosystems) are closely linked and interdependent. The approach mobilizes multiple sectors, disciplines, and communities at varying levels of society to work together to foster well-being and tackle threats to health and ecosystems […].”[7]
Während des Lockdowns im Mai 2020 beobachtete Trevor Paglen, wie vor seiner Haustür die Bäume blühten. Die Natur schien sich vielerorts von menschlichen Aktivitäten zu erholen. Bezogen auf diese Erfahrung generierte der Künstler die Serie Bloom mit Hilfe eines Algorithmus, der in den japanisch anmutenden Strukturen aus Blüten, Blättern und Ästen Vanitas-Motive, wie Totenköpfe, versteckte.
Welcher systemischen Begrenzung die traditionellen Wissensdisziplinen unterliegen, und wie schwer sie sich tun, gegenwärtige Prozesse auf dieser Erde zu beschreiben, zeigt sich an dem Beispiel aktueller, planetarer Veränderungen. Unter dem Konzept des Anthropozän wurde besonders im Kulturbereich die ökologische Veränderung dokumentiert. Die Internationale Geowissenschaftliche Union stimmte 2024 allerdings gegen die Aufnahme des Begriffes in die offizielle stratigrafische Zeitskala, mit dem Argument, es gäbe weltweit keine einheitliche Nachweisbarkeit. Die Hauptbegründung bestand darin, dass der zeitliche Rahmen für eine Einordnung in die Struktur der Erdzeitalter in der Geologie fehle, das Anthropozän zu kurz und zu gegenwärtig sei.
Künstlerische Forschung gelingt an vielen Stellen, was konventioneller Wissenschaft aufgrund der disziplinären Zusammenhänge verschlossen bleibt. Das „archival thinking“ von Künstler*innen über disziplinäre und kulturelle Grenzen hinaus, gestaltet Wissensproduktion basierend auf Praxis und Alltagserfahrung. So gelingt es mit Strategien wie humorvoller Verfremdung oder epistemischer Opazität zwischen hybriden Materialien und Inhalten, mit offener Iteration und metonymischer Bedeutungsproduktion, ein Archiv der Gegenwart zu gestalten.
Sara Hillnhütter ist Referentin für künstlerische Forschung an der HFBK Hamburg. Zuvor hat sie Kulturprojekte im Kunstverein nGbK, Berlin, umgesetzt und war wissenschaftlichen Mitarbeiterin an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main sowie an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo sie 2025 mit einer Arbeit zur Geschichte der Preußischen Meßbild-Anstalt (1885-1921) im Fach Kunstgeschichte promoviert wurde. Ihre thematischen Schwerpunkte sind die Entgrenzung der Künste im Zeitalter der Moderne und Bilder in der Wissens- und Technikgeschichte.
Dieser Text wurde zuerst veröffentlicht im Lerchenfeld #75.
Fußnoten:
[1] Hal Foster, “An Archival Impulse.”, in: October, vol. 110, 2004, S. 3–22, hier S. 3. JSTOR, http://www.jstor.org/stable/3397555. Accessed 7 June 2025 (zuletzt abgerufen: 13.6.25)
[2] Lucy, Potter (ed.), Reclaiming Artistic Research, Hatje Cantz, Berlin, 2019, S.10.
[3] Ebd., S. 12.
[4] Vgl. Olga Schubert, Carmen Weisskopf, Domagoj Smoljo (!Mediengruppe Bitnik) in conversation with Felix Stalder, “Curatorial Research – Opacity and Criticality from the Inside. Technology, Trans-Cultural Encounters and the Planetary Scale.”, jar-online.net, 29.12.2024, https://doi.org/10.22501/jarnet.0074
(https://doi.org/10.22501/jarnet.0074) (zuletzt aufgerufen: 13.6.25)
[5] Brooke Ackerly (Hrsg.), “COVID-19: Shifting Paradigms”, in: International Feminist Journal of Politics, 2020, Jg. 22, Nr. 4, S. 453-455, https://doi.org/10.1080/14616742.2020.1796363 (Zuletzt aufgerufen: 13.6.25)
[6] Mandy Mungler, Gonza Ngoumou, “Unlearn Medizin”, in: Emilia Roig, Alexandra Zykunov, Silvie Horch (Hrsg.), Unlearn Patriachy #2, Ullstein, Hamburg Berlin 2024, S. 262-286.
[7] Adisasmito WB, Almuhairi S, Behravesh CB, Bilivogui P, Bukachi SA, et al., “One Health: A new definition for a sustainable and healthy future”, in: PLoS Pathog 18(6), 2022, https://doi.org/10.1371/journal.ppat.1010537 (zuletzt aufgerufen: 13.6.25)
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