Reading: Leseempfehlungen für diesen Sommer
Ein Best-of der Readinglists vergangener Lerchenfeld Magazine und neu erschienener Publikationen - wir haben eine Auswahl getroffen, die garantiert eine anregende Sommerlektüre bietet.
Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit, 1880, Hoffenberg, 2016
Unter dem Titel Le droit à la paresse erschien die explosive kleine Schrift 1880 zuerst in der Zeitschrift L’Égalité, drei Jahre später fand sie in der Übersetzung von Eduard Bernstein auch in Deutschland Verbreitung. Ihr Verfasser, Schwiegersohn von Karl Marx, Arzt, Journalist, Literaturkritiker und Mitbegründer der marxistischen Arbeiterpartei Frankreichs hat sich nichts Geringeres vorgenommen als das Recht auf Arbeit von 1848 zu widerlegen. Polemisch diagnostiziert Lafargue dem Proletariat eine selbstverleugnende Liebe zur Arbeit, eine „Arbeitssucht“, die Männer, Frauen und Kinder die Existenz koste. Lafargues Kapitalismuskritik schließt zu diesem frühen Zeitpunkt bereits die Kritik an Konsum und Fortschritt ein, was diesen Text, von dem in westdeutschen linken Buchhandlungen oft ein abgegriffenes Exemplar in der Leseecke lag, noch immer interessant macht. Über die stolzen Angehörigen vorindustrieller Gesellschaften, die der Autor – selbst mit jamaikanisch-kreolischen Wurzeln ausgestattet – als Gegenbilder zu den „abgerackerten Maschinensklaven“ beschwört, sollte man heute großzügig hinweglesen. Für Lafargue gab es offensichtlich nur noch eine mit den Folgen der Arbeit vergleichbare Zumutung. Nach einem Opernbesuch nahm er sich 1911 mit seiner Frau Laura Lafargue, geborene Marx, „bevor mir das unerbittliche Alter nach und nach die Freuden des Daseins vergällt“ das Leben.
Joke Janssen, ANna Tautfest: Kanon. Experimentelle Klasse, Argument, 2021
Im Juli 2021 brachte die Experimentelle Klasse die Publikation Kanon heraus. Das Buch spiegelt zum einen die Auseinandersetzung mit queeren, feministischen und intersektionalen Fragestellungen in der von den Promovend*innen Joke Janssen und ANna Tautfest gegründeten Klasse und zum anderen die im Rahmen der Klassentreffen und Aktivitäten entwickelten Vorgehensweisen, Gesprächs- und Schreibformate wider – wozu auch die im Umgang miteinander berücksichtigten Metaebenen gehören. Diese Vielstimmigkeit ist dem Umstand zu verdanken, dass die Publikation aus der Arbeit der Klasse heraus gemeinsam von allen Beteiligten gestaltet wurde. Schreiben war von Anfang an ein fester Bestandteil der Seminararbeit. In dem titelgebenden Begriff »Kanon« steckt eine augenzwinkernd hervorgebrachte Behauptung – denn natürlich geht es nicht darum, ein festes Regelwerk aufzustellen. Vielmehr bietet die Form eines alphabethisch geordneten Glossars die Möglichkeit, die unterschiedlichen Text-Formen auf eine nicht hierarchische Art und Weise zu gruppieren.
ISBN 978-3-86754-523-5
Jose Domingo Martínez: Questions from the Image Below to the Image Above and the Other Way Around, Materialverlag der HFBK Hamburg, 2020
Ausgehend von seinen Bildern unternimmt Jose Domingo Martínez einen intellektuellen Spaziergang durch Literatur, Kunstgeschichte und Internet, um seinen gedanklichen Horizont zu erhellen und zu erläutern, worauf sich seine Malerei gründet. Er nimmt den/die Leser*in mit auf eine assoziationsreiche Auseinandersetzung mit unterschiedlichen künstlerischen wie theoretischen Positionen, denen er sich verpflichtet fühlt. Auch fehlt nicht der Einblick in die persönliche Befindlichkeit, etwa wenn er von den Rückenschmerzen berichtet, unter denen er bei der Schreibarbeit leidet. Material 416, edition HFBK 76, ISBN 978-3-944954-56-1
Carlos León Zambrano: Oro parece, plata no es, Materialverlag der HFBK Hamburg, 2021
»Oro Parece, Plata no es...« ist ein Kinderrätsel, das in hispanoamerikanischen Ländern bekannt ist, und das ins Deutsche übersetzt »Gold scheint es, aber Silber ist es nicht…« kryptisch bleibt. Nicht nur der Titel, auch das Buch selbst gibt den Leser*innen ein Rätsel auf. Es versteht sich als Metapher für das Land, in dem der Künstler groß geworden ist: Venezuela. Ein Land, das er von Korruption, Humor, Ironie, Chaos und Schönheit bestimmt sieht. Das Buch ist zugleich Schmuggelware. Es versteckt einen Teil seines Inhalts, den die Leser*innen sich mithilfe der im Buch deponierten Rasierklinge erschließen können. Durch Aufschlitzen der Seiten wird der offizielle Text von jenem, der ursprünglich im Verborgenen lag, durchkreuzt und zersetzt. Das Buch versteht sich nicht als politisch, es ist eine Collage, ein Spielraum, ein geschmuggelter Gegenstand, der in einem fernen Land gelandet ist und dort betrachtet wird. Material 413, ISBN 978-3-944954-62-2
Herman Melville: Bartleby der Schreibgehilfe. Von einem der auszog, das Neinsagen zu lernen. Insel Verlag, 2019
„I would prefer not to“ - mit dieser bestechend einfachen, wie höflichen Verweigerung brennt sich der Kanzleimitarbeiter Bartleby in Herman Melvilles Erzählung in das kollektive Gedächtnis der Leser*innen ein, sodass Bartleby noch Jahrhunderte später als Held der Postmoderne gefeiert werden wird. Diese bekannte Antwort erhält nämlich nicht irgendwer, sondern der Arbeitgeber von Bartleby. Eine Arbeitsverweigerung, die nicht nur in der New Yorker Geschäftswelt der 1850er Jahre undenkbar ist. Doch der Arbeitgeber und Ich-Erzähler in Melvilles Werk entwickelt eine Sympathie für den widerspenstigen Angestellten und versucht ihm zu helfen. Denn am Anfang fällt Bartleby eher als schweigsamer und stoisch arbeitender Schreibgehilfe auf, der erst nach einiger Zeit dazu übergeht jede ihm übertragene Tätigkeiten mit dem Satz „Ich möchte lieber nicht“ abzulehnen. Damit wird er zur tragisch, grotesken Ikone. Denn der Schreibgehilfe belässt es nicht nur bei seiner Verweigerung gegenüber der Arbeitswelt, sondern geht weiter. Ob Bartleby ein extremer Individualist, Held der Postmodernen (Gilles Deleuze) oder des passiven Widerstands ist, bleibt offen und macht die Erzählung des Moby Dick-Autors umso gegenwärtiger.
Birgit Schlieps: Aktau: Bildphänomene einer Plattenbaustadt in der Kasachischen Steppe, Materialverlag der HFBK Hamburg, 2021
Birgit Schlieps‘ künstlerisch-wissenschaftliche Recherche umkreist die südwestkasachische Stadt Aktau, von ihrer Konstruktion als Idealstadt in den 1960er Jahren bis hin zu aktuellen postsozialistischen urbanen Entwicklungen. Die verschiedenen bildlichen Erscheinungsformen der Plattenbaustadt in der Steppe lässt sie nicht nur die materielle und strukturelle Zusammensetzung der Stadt, sondern auch die der Bilder und den Prozess ihrer Produktion und die damit verbundene Wahrnehmung befragen.
Material 411, ISBN 978-3-944954-53-0