Geontologien: Das Konzept und seine Territorien
In einer Zeit, in der die Zukunft des menschlichen Lebens – oder der menschlichen Art zu leben – durch die Erwärmung des Planeten in Bedrängnis gerät, ist die Ontologie zu einer zentralen Fragestellung in Philosophie, Anthropologie, Literatur- und Kulturwissenschaft, Naturwissenschaften und Technik geworden. Nicht nur fällt es kritischen Theoretiker*innen zunehmend schwer, die Überlegenheit des Menschen gegenüber anderen Lebensformen zu belegen – daher der Aufstieg posthumanistischer Politik und Theorie –, sie haben außerdem Schwierigkeiten, eine bedeutungsvolle Unterscheidung zwischen sämtlichen Formen des Lebens auf der einen und der Kategorie des Nicht-Lebens auf der anderen Seite aufrechtzuerhalten. Die kritische Theorie stellt ontologische Unterscheidungen zwischen biologischen, geologischen und meteorologischen Existenzen immer härter auf die Probe, und die posthumanistische Kritik macht einer Post-Life-Kritik Platz, das Dasein der Assemblage, die Biomacht der Geontomacht. Welchen Status sollten Objekte in verschiedenen Ontologien des Westens einnehmen? Gibt es Objekte, Existenzen oder nur unscharfe Assemblagen? Sind diese unscharfen Assemblagen ebenfalls belebt? Anthropolog*innen haben sich diesen eigentlich typisch philosophischen Fragen gestellt, indem sie ein weiter zurückreichendes Interesse an sozialen und kulturellen Epistemologien und Kosmologien in eine Frage multipler Ontologien transformierten.[1] Aber vielleicht greifen diese akademischen Disziplinen auch nur einen Diskurs auf, der durch Literatur wie Don DeLillos Weißes Rauschen und Margaret Atwoods schriftstellerisches Werk, beginnend mit Der Report der Magd und weitergeführt in der MaddAddam-Trilogie, angestoßen wurde. Inzwischen befasst sich ein ganzes Feld der ökoliterarischen Studien mit fiktionalen, medialen und filmischen Erkundungen einer Welt nach dem herannahenden Aussterben. Das führt mich zu meinem zweiten Punkt. Während wir mehr und mehr von den konkurrierenden Ansprüchen prekärer Naturen und miteinander verwobener Existenzen eingenommen werden, werden die konzeptuellen Figuren und Taktiken des Biopolitischen und Nekropolitischen von sich rasant vermehrenden neuen konzeptuellen Modellen, Figuren und Taktiken verdrängt. Zum Zweck der analytischen Erläuterung werde ich diesen konzeptuellen Wildwuchs in drei Figuren bündeln: der Wüste, dem Animisten und dem Virus. Um den Status dieser Figuren zu verstehen, müssen wir zwei Punkte fest im Auge behalten. Erstens: Während das Geontologische in der Ausrichtung unseres Denkens eine immer größere Rolle spielt, können andere Formen der Existenz (andere Existenzen) nicht einfach in unser bisheriges Verständnis von Dasein und Leben integriert werden. Vielmehr muss zum einen die Trennung von Leben und Nicht-Leben als solche aufgehoben werden, zum anderen eine Abgrenzung von Herrschaftsformen des Spätliberalismus stattfinden. Mit anderen Worten: Diese Figuren, statischen Strukturen und Diskurse sind diagnostisch und symptomatisch für die Art und Weise, wie der Spätliberalismus gegenwärtig die Unterschiede und Märkte innerhalb einer differenziellen Sozialgeografie bestimmt. Die drei Figuren der Geontomacht sind daher, aus einer bestimmten Perspektive betrachtet, mit Foucaults vier Figuren der Biomacht vergleichbar. Die hysterische Frau (eine Hysterisierung weiblicher Körper), das masturbierende Kind (eine Pädagogisierung kindlicher Sexualität), der perverse Erwachsene (eine Psychiatrisierung perversen Vergnügens) und das familienplanende Paar (eine Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens). Foucault interessierte sich für diese Figuren von Sexualität und Geschlecht nicht deshalb, weil er glaubte, sie stellten die unterdrückte Wahrheit der menschlichen Existenz dar, sondern weil er der Meinung war, sie seien symptomatisch und diagnostisch für eine moderne Form der Machtbildung. Diese vier Figuren waren sowohl Ausdruck der Biomacht als auch Schaufenster ihrer Wirkungsweise. Zwar spricht Foucault in seinen Vorlesungen, zusammengestellt in In Verteidigung der Gesellschaft, über ein Aufbegehren unterjochter Wissensformen, aber diese Figuren als Unterworfene im Sinne eines liberalen Verständnisses vom unterdrückten Subjekt zu begreifen, wäre ein Irrtum. Es ging nicht darum, wie diese Figuren und Lebensformen von der Unterjochung befreit werden konnten, sondern darum, wie sie als Hinweise auf eine mögliche Welt jenseits oder abweichend von der eigenen Existenzform gelesen werden konnten – als Wegstation im Prozess der Herausbildung von etwas anderem. Wie können die hysterische Frau, das masturbierende Kind, das familienplanende Paar und der perverse Erwachsene etwas anderes werden als das, was sie waren? Und wie könnte was auch immer aus ihnen hervorgeht die Umstände seiner Geburt überleben? Wie könnten sie mit Eigenschaften und Merkmalen ausgestattet werden, die gemeinhin als vernünftig und überzeugend gelten, bevor sie als Monstrosität ausgemerzt werden?[2]
Ein ähnlicher Ansatz kann auch in Bezug auf die Wüste, den Animisten und das Virus verfolgt werden. Jede dieser Figuren bietet einen Mechanismus, durch den wir uns eine Vorstellung von den einst selbstverständlich vorausgesetzten, mittlerweile jedoch ins Wanken geratenen Architekturen geontologischer Herrschaft machen können. Auch diese Figuren und Diskurse sind weder der Ausweg aus noch die Antwort auf die Biopolitik. Sie sind keine unterworfenen Subjekte, die darauf warten, befreit zu werden. Die Geontologie ist keine Krise zwischen Leben (bios) und Tod (thanatos) auf Artenebene (Aussterben) oder zwischen Leben (bios) und Nicht-Leben (geos, meteoros). Geontomacht ist ein Modus spätliberaler Herrschaft. Und es ist diese Art der Herrschaft, die ins Wanken gerät. Vielmehr noch, und das ist der zweite Punkt, müssen die Wüste, der Animist und das Virus – weil sie Werkzeuge sind, Symptome, Figuren und Diagnostika dieser Art der spätliberalen Herrschaft, die vielleicht am deutlichsten im Spätliberalismus der Siedler*innen hervortritt – möglicherweise von anderen Figuren an anderen Orten verdrängt werden, wenn diese anderen Figuren für die Herrschaft in ihren jeweiligen Räumen augenfälliger oder relevanter erscheinen. Aber es scheint mir, als drängten sich die Geontologie und ihre drei Figuren zumindest im Spätliberalismus der Siedler*innen direkt an der Schwelle zwischen der bestehenden Herrschaft und ihren Alternativen, in dem Versuch, Ein- und Ausgang zu versperren und Form und Ausdehnung ihrer Innenräume zu begrenzen. Alternativ könnten wir uns diese Figuren als eine Ansammlung Herrschaft ausübender Gespenster vorstellen, die zwischen zwei Welten des Spätliberalismus der Siedler*innen existieren – der Welt, in der die Gegensätze Leben (bios) und Tod (thanatos) sowie Leben (bios) und Nicht-Leben (geos, meteoros) sinnvoll und drastisch sind und jener Welt, in der diese starren Konzepte nicht mehr relevant, sinnvoll oder praktikabel sind oder es nie waren.
Nehmen wir einmal die Wüste und ihr zentrales Imaginarium Kohlenstoff. Die Wüste besteht aus Diskursen, Taktiken und Figuren, die die Unterscheidung zwischen Leben und Nicht-Leben neu bekräftigen. Sie steht für all die Dinge, die als jeglichen Lebens entblößt wahrgenommen und begriffen werden – und damit auch für alle Dinge, die, mit dem richtigen Einsatz von technologischem Know-how oder angemessener Verwaltung, für das Leben (wieder) zugänglich gemacht werden können. Mit anderen Worten, die Wüste hält an der Unterscheidung zwischen Leben und Nicht-Leben fest und dramatisiert die Tatsache, dass das Leben stets durch die sich anbahnenden, ausdörrenden Sande des Nicht-Lebens bedroht ist. Die Wüste ist der Raum, in dem Leben war, nicht mehr ist, aber wieder sein könnte, wenn Wissen, Techniken und Ressourcen richtig eingesetzt würden. Das „Carbon Imaginary“ – unser Narrativ vom Kohlenstoff – steht im Zentrum dieser Figur und ist somit der Schlüssel zur Erhaltung der Geontomacht. Mit diesem „Carbon Imaginary“ wird die Erhabenheit des Lebens auf das Dasein übertragen, indem biologische Konzepte wie der Stoffwechsel und seine Schlüsselereignisse wie Geburt, Wachstum, Fortpflanzung und Tod mit ontologischen Konzepten wie Ereignis, conatus/affectus und Endlichsein vertauscht werden. Natürlich bewegen sich Biologie und Ontologie nicht im selben diskursiven Feld, noch überschneiden sie sich. Nichtsdestotrotz bestärkt das „Carbon Imaginary“ einen durch Narben gezeichneten Ort des Austausches von konzeptionellen Intensitäten, Faszination, Erstaunen, Ängsten, vielleicht sogar Schrecken in Bezug auf das Andere des Lebens, nämlich das Inerte, Unbelebte, Unfruchtbare. An diesem vernarbten Ort wird das Ontologische als biontologisch entlarvt. Das Dasein wurde immer vom Leben und von den Bedürfnissen des Lebens dominiert.
Daher bezieht sich die Wüste nicht in wörtlicher Hinsicht auf jenes Ökosystem, das mangels Wassers lebensfeindlich ist. Die Wüste ist der Affekt, der zur Suche nach anderen Lebensformen im Universum, nach Technologien zur Aussiedelung von Leben auf anderen Planeten motiviert; sie verleiht dem zeitgenössischen Imaginarium nordafrikanischer Ölfelder Farbe und schürt die Angst, dass jeder Ort bald nichts weiter sein könnte als die Kulisse eines Mad Max-Films. Die Wüste zeigt sich außerdem sowohl in der geologischen Kategorie des Fossils – insofern wir Fossilien als einst mit Leben aufgeladene Entitäten betrachten, die dieses Leben verloren haben, aber nun in Form von Treibstoff die Grundlage für eine spezifische Form des Lebens (des zeitgenössischen, hypermodernen, informationalisierten Kapitals) sowie für eine neue Form des Massensterbens und der völligen Auslöschung bilden – als auch in den Forderungen nach einer wirtschaftlichen oder technologischen Lösung für den menschengemachten Klimawandel. Es überrascht nicht, dass die Wüste selbst Treibstoff für neue theoretische, wissenschaftliche, literarische, künstlerische und mediale Arbeiten ist, von den Mad Max-Filmen über das Science-Fiction-Werk Marsianischer Zeitsturz von Philip K. Dick bis hin zur Poetik von Juliana Spahrs Well Then There Now.
Im Zentrum der Figur des Animisten steht das Imaginarium des Indigenen. Während die Wüste die ständig lauernde Gefahr für das Leben in Form des Nicht-Lebens dramatisiert, beharrt der Animist darauf, dass der Unterschied zwischen Leben und Nicht-Leben kein Problem darstellt, weil alle Formen der Existenz eine vitale, belebende, anrührende Kraft in sich tragen. Bestimmten sozialen und historischen Bevölkerungsgruppen wird unterstellt, dass sie schon immer über diese zentrale animistische Einsicht verfügten. Zu finden sind diese Gruppen vor allem in den Kolonien der Siedler*innen, aber auch in vorchristlichen und vorislamischen Gemeinschaften auf der ganzen Welt, im zeitgenössischen Recycling-Thema[3], im Neopaganismus, in den aktantenbasierten Wissenschafts- und Technologiestudien und in einigen Arten der Darstellung und Wahrnehmung einer Vielzahl neuer kognitiver Thematiken. So kann etwa die psychokognitive Diagnose bestimmter Formen von Autismus und des Asperger-Syndroms der Kategorie des Animisten zugeordnet werden. Eine exemplarische Persönlichkeit ist hier Temple Grandin, nicht nur wegen ihres Fokus auf nicht-menschliches Leben (Kühe), sondern wegen ihres Eintretens für jene alternativen Sichtweisen, die eine Ausrichtung auf nicht-lebendige Formen der Existenz möglich machen. Der Animist regte außerdem eine Reihe künstlerischer Erkundungen nicht-menschlicher und anorganischer Modi des Handelns, der Subjektivität und der Assemblage an, etwa Laline Pauls Roman Die Bienen und den italienischen Film Le Quattro Volte. Der Animist umfasst also, anders ausgedrückt, all jene, die eine Gleichwertigkeit zwischen allen Lebensformen erkennen oder dort Leben wahrnehmen können, wo andere nur dessen Abwesenheit sehen.
Was die Theorie anbelangt, findet der Animist vor allem in zeitgenössischen kritischen Philosophien des Vitalismus Ausdruck. Einige Vertreter*innen des neuen Vitalismus bedienen sich Spinozas Prinzipien des conatus (das Streben nach Selbsterhalt alles Existierenden, ob lebend oder nicht lebend) und affectus (die Fähigkeit, anzuregen und angeregt zu werden), um die Trennung von Leben und Nicht-Leben zu zerschlagen; wenngleich andere, etwa John Carriero, darauf hinweisen, dass Spinoza unkritisch voraussetzte, lebende Dinge seien „fortschrittlicher“ als nicht-lebende Dinge und „dass hinter einer Katze mehr steckt als hinter einem Stein“[4]. Auch der amerikanische Pragmatist Charles Sanders Peirce hat eine neue vitalistische Forschung angestoßen – so befasst sich beispielsweise Brian Massumi schon lange mit Peirces Semiotik als Grundlage für die Ausweitung des Affekts auf nicht-lebende Existenzen.[5] Das Interesse am „vitalen Materialismus“, um Jane Bennett zu zitieren, besteht freilich nicht darin, sich für das Leben an sich zu interessieren. Vielmehr geht es darum, die Verteilung von Quasi-Akteur*innen und Aktanten über nicht-menschliche und menschliche Materie hinweg in einer Weise zu verstehen, die an den Konzepten von Subjekt, Objekt und Prädikat rüttelt. Und doch tritt genau hier die Macht des „Carbon Imaginary“ auf den Plan – der Verflechtung dominanter konzeptioneller Räume des Spätliberalismus durch den wechselseitigen Austausch der biologischen Konzepte Geburt, Wachstum, Fortpflanzung und Tod und der ontologischen Konzepte Ereignis, conatus/affectus und Endlichsein. Die Vertreter*innen des neuen Vitalismus machen sich die seit Jahren im Westen praktizierte Übertragung der Qualitäten einer Kategorie (Leben) auf die Schlüsseldynamiken des Existenzbegriffs (Dasein) zunutze. Ausgebrochen aus den kategorischen Grenzen des Lebendigen streift das Leben als Dasein frei umher – als eine Art univoke Vitalität. Inwiefern verhindern wir damit, dass das, was das Nicht-Leben darstellt, Einfluss auf das nimmt, wofür das Leben als Alibi steht? Was sind die Fallstricke, die diese strategische Antwort der kritischen Theorie in den Weg legt? Wenn wir jene Qualitäten, die wir an einer bestimmten Existenzform schätzen, allen Existenzformen zuzuschreiben, inwiefern stellt dieser Akt die Hierarchie des Lebens, verdeckt oder offen, wieder her?[6]
Schließlich geben das Virus und dessen zentrales Imaginarium des Terroristischen Einblick in eine anhaltende, erratische potenzielle Radikalisierung der Wüste, des Animisten sowie der „Carbon Imaginary“ und Indigenität. Die Figur des Virus steht für all das, was die aktuelle Ordnung des Lebens und des Nicht-Lebens zu stören versucht, indem es behauptet, dass die Unterscheidung zwischen ihnen keinen Unterschied macht, und zwar weder weil alles lebendig, vital und potent ist, noch weil alles inert, replikativ, inaktiv und endurant ist. Da die Trennung von Leben und Nicht-Leben das Virus weder definiert noch einschränkt, kann es diese Trennung zum alleinigen Zweck nutzen oder missachten, die Energien der Existenzordnungen für seine eigene Vermehrung zu zweckentfremden. Das Virus kopiert und vervielfältigt sich und liegt brach, während es sich fortwährend an die Gegebenheiten anpasst, mit ihnen experimentiert und sie erprobt. Es verwischt und relativiert den Unterschied zwischen Leben und Nicht-Leben und macht sich gleichzeitig sorgfältig die feinsten Aspekte ihrer Unterscheidung zunutze. Wir erhaschen einen Blick auf das Virus immer dann, wenn jemand vorschlägt, dass im Zusammenhang mit dem Klimawandel die Größe der menschlichen Bevölkerung thematisiert werden muss, dass ein vergletscherter Granitberg die Folgen von Klimaanlagen auf das Leben willkommen heißt, dass Menschen Kudzu (invasive Kletterpflanzen, Anm. d. Red.) sind oder dass das Aussterben der Menschheit wünschenswert ist und beschleunigt werden sollte. Das Virus ist außerdem Ebola, ist die Müllhalde, ist die Infektion mit antibiotikaresistenten Keimen, die in riesigen Lachs- und Geflügelfarmen herangezüchtet werden, ist die Atomkraft; die Person, die genau wie „wir“ aussieht, wenn sie die Bombe legt. Am spektakulärsten tritt das Virus wohl in Form der popkulturellen Figur des Zombies auf – Leben, das zu Nicht-Leben wurde und in eine neue Form des Kriegs der Spezies mündete: den Krieg der aggressiven, verwesenden Untoten gegen die letzte Bastion des Lebens. Der Unterschied zwischen der Wüste und dem Virus hat also etwas mit dem Handeln und der Intentionalität von nicht-menschlichem Leben und Nicht-Leben zu tun. Während es sich bei der Wüste um einen inerten Zustand handelt, dem eine technologische Lösung recht käme, ist das Virus ein aktiver antagonistischer Akteur, der aus dem kollektiven Gefüge der spätliberalen Geontomacht heraus entstanden ist. Im Zuge der Krisen des Spätliberalismus nach 9/11, dem Crash der Finanzmärkte und dem anthropogenen Klimawandel wurde das Virus vor allem mit dem islamischen Fundamentalismus und der radikalen grünen Bewegung in Verbindung gebracht, und ein Großteil der kritischen Überlegungen konzentrierte sich auf die Beziehung zwischen Biopolitik und Biosicherheit im Nachgang dieser Krisen. Aber dieser Fokus auf Biosicherheit verschleierte deren systemische Neuausrichtung auf Geosicherheit und Meteorosicherheit: die sozialen und ökologischen Folgen des Klimawandels.[7] Deshalb ist das Virus auch das politische Andere der Erkenntnis: Umweltschützer*innen, die sich im Grenzbereich zwischen Aktivismus und Terrorismus jenseits von Staatsgrenzen und zwischenstaatlicher Überwachung bewegen. Zwar scheint das Virus auf den ersten Blick wie ein radikaler Ausstieg aus der Geontomacht. Aber das Virus zu sein bedeutet auch, intensiver Erniedrigung und Attacken ausgesetzt zu sein, und in der Nähe des Virus zu leben heißt, in einer existenziellen Krise zu verweilen.
Es wird, so hoffe ich, deutlich, dass der Kapitalismus eine einzigartige Beziehung zur Wüste, zum Animisten und zum Virus hat, insofern als er in allen Dingen das Potenzial sieht, Profit zu generieren. Das heißt, nichts ist von Natur aus inert; vom Standpunkt der Kapitalisierung aus ist alles von vitaler Bedeutung, und alles kann mit dem richtigen innovativen Blickwinkel zu mehr werden. Tatsächlich lässt sich behaupten, dass Kapitalist*innen die reinste Form des Animisten verkörpern. Gleichwohl ist das industrielle Kapital auf die Trennung zwischen verschiedenen Formen der Existenz angewiesen, die es gemeinsam mit den Staaten energisch durchsetzt, damit bestimmte Existenzen unterschiedliche Arten der Ausbeutung erfahren können. Während also Aktivist*innen und Akademiker*innen die Unterschiede zwischen tierischem Leben und Objekten (einschließlich menschlicher Subjekte) nivellieren, verabschieden Staaten Gesetze zum Schutz der Rechte von Unternehmen und Konzernen zur Nutzung von Tieren und Land sowie zur Kriminalisierung von ökologischem und umweltpolitischem Aktivismus. Anders ausgedrückt: Wie das Virus, das die Unterscheidung zwischen Leben und Nicht-Leben für sich nutzt, jedoch nicht untrennbar damit verbunden ist, betrachtet das Kapital alle Existenzmodi als vital und fordert gleichzeitig ein, dass unter dem Gesichtspunkt der Wertschöpfung nicht alle Formen der Existenz gleich sind.
Elizabeth A. Povinelli ist Franz Boas Professor of Anthropology und Professorin der Gender Studies an der Columbia University. Zu ihren Publikationen zählen The Inheritance (2021); Geontologies: A Requiem to Late Liberalism (2016); Economies of Abandonment: Social Belonging and Endurance in Late Liberalism (2011) und The Cunning of Recognition: Indigenous Alterities and the Making of Australian Multiculturalism (2002). Außerdem ist sie Gründungsmitglied des Karrabing Film Collective. Im Rahmen des Festivals & Symposiums Non-Knowledge, Laughter and the Moving Image wird sie am 24. November 2022 einen Online-Talk geben.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem ersten Kapitel von Geontologies: A Requiem to Late Liberalism von Elizabeth A. Povinelli. Copyright Duke University Press, 2016. Der englische Text ist online verfügbar unter: https://www.e-flux.com/journal/81/123372/geontologies-the-concept-and-its-territories/
Übersetzung ins Deutsche: Katharina Freisinger
[1] Siehe zum Beispiel Knut Christian Myhre, „What the Beer Shows: Exploring Ritual and Ontology in Kilimanjaro“, American Ethnologist, Bd. 42, Nr. 1 (2015): 97–115; Henrik Erdman Vigh und David Brehm Sausdal, „From Essence Back to Existence: Anthropology beyond the Ontological Turn“, Anthropological Theory, Bd. 14, Nr. 1 (2014): 49–73; Martin Holbraad, „The Power of Powder: Multiplicity and Motion in the Divinatory Cosmology of Cuban Ifá (or Mana Again)“, in Thinking through Things: Theorising Artefacts Ethnographically, Hrsg. Amiria Henare und Martin Holbraad (London: Routledge, 2007), 189–225; Marisol de la Cadena, „Indigenous Cosmopolitics in the Andes: Conceptual Reflections beyond ‚Politics‘“, Cultural Anthropology, Bd. 25, Nr. 2 (2010): 334–70; und Philip Descola, The Ecology of Others (Chicago: Prickly Paradigm, 2013).
[2] Ich führe die obigen Punkte aus in Povinelli, „The Will to Be Otherwise/The Effort of Endurance“, South Atlantic Quarterly, Bd. 111, Nr. 3 (2012): 453–75.
[3] Siehe zum Beispiel M. J. Hird, S. Lougheed, K. Rowe und C. Kuyvenhoven, „Making Waste Management Public (or Falling Back to Sleep)“, Social Studies of Science, Bd. 44, Nr. 3 (2014): 441–65.
[4] John Carriero, „Conatus and Perfection in Spinoza“, Midwest Studies in Philosophy, 35 (2011): 74.
[5] Brian Massumi, Ontopower: War, Powers, and the State of Perception (Durham: Duke University Press, 2016). Siehe auch Jane Bennett, „A Vitalist Stopover on the Way to a New Materialism“, in New Materialisms: Ontology, Agency, and Politics, Hrsg. Diana H. Coole und Samantha Frost (Durham: Duke University Press, 2010), 47–69; Arun Saldanha, Sexual Difference: Between Psychoanalysis and Vitalism (London: Routledge, 2013); und Mel Chen, Animacies: Biopolitics, Racial Mattering, and Queer Affect (Durham: Duke University Press, 2012).
[6] Beispielsweise versuchte Elizabeth Grosz kürzlich, das Konzept der Differenz im Werk von Charles Darwin und, allgemeiner, in der zeitgenössischen posthumanistischen Wende zu verorten. Durch eine reiche Lektüre der Schriften von Darwin, Bergson und Deleuze arbeitet Grosz den Unterschied zwischen Leben und Nicht-Leben, zwischen dem Organischen und Anorganischen heraus, indem sie eine „eingeschränkte Dynamik“ postuliert, die durch beide pulsiert. Sie unterscheidet außerdem das Anorganische und das Organische, indem sie eine Form der organischen Reproduktion, den Geschlechtsdimorphismus, auf der Grundlage seiner Komplexität über alle anderen erhöht; er sei einzigartig „dynamisch, offen, ontologisch“. Elizabeth Grosz, Becoming Undone: Darwinian Reflections on Life, Politics, and Art (Durham: Duke University Press, 2011), 116.
[7] Nafeez Ahmed, „Pentagon Bracing for Public Dissent over Climate and Energy Shocks“, The Guardian, 14. Juni 2013.