Editorial zum Lerchenfeld HFBK Nr. 66
Kollektive haben Konjunktur im Kunstbetrieb: bei Verleihungen wie dem Turner Prize (2018 wurde Assemble, 2021 das Array Collective ausgezeichnet), in bedeutenden Kunstinstitutionen (das Karrabing Film Collective hatte gerade eine große Ausstellung im Haus der Kunst, München) oder bei den zahlreichen Großausstellungen im letzten Jahr (die 14. Manifesta in Pristina wollte neue Formen des kollektiven Erzählens finden, die 17. Istanbul Biennale bediente das Bild des „Komposthaufens“ als Metapher für das Bild des Kollektivs, welches Verschiedenes zusammenwirft, gärt, und Neues, Fruchtbares hervorbringt).
Und natürlich die documenta fifteen, die von dem Kollektiv ruangrupa kuratiert wurde. In einem ausführlichen Interview mit Nora Sternfeld beschreiben sie ihre kollektive Praxis mit den Worten: „Wir ziehen keine Grenzen zwischen dem, wo wir aufhören und wo andere anfangen, und das gilt hoffentlich auch umgekehrt.“ Der Soziologe Dirk Baecker hebt diesen besonderen und vielleicht einmaligen Aspekt ihrer kollektiven Praxis in seinem Lerchenfeld-Beitrag hervor: Ihnen geht es um die „individuelle Selbstbindung“ aller Beteiligten, sowohl der Künstler*innen als auch des Publikums: „Für die künstlerische Praxis ist dieser Kollektivbegriff instruktiv, weil er die Subjektivität aller Beteiligten voraussetzt und hervorruft. […] Etwas pathetisch könnte man formulieren, dass das Kollektiv eine Verzichtsgemeinschaft ist. Man verzichtet auf Handlungsmöglichkeiten, beobachtet diesen Verzicht (und sein Ausmaß) auch bei vielen anderen und lässt sich deswegen auf eine gemeinsame Sache ein, von der sich erst noch herausstellen kann, worin sie besteht.“
Doch Künstler*innenkollektive sind keine neue Entwicklung, schon die Dadaisten, Surrealisten, die Fluxus-Bewegung sowie die soziale Kunstpraxis der 1990er Jahre brachten zahlreiche Kollektive hervor. Und seitdem hat sich der Kollektiv-Begriff von rein männlich dominierten Zusammenschlüssen hin zu diversen, lose verbundenen Gruppen mit wechselnden Mitgliedern und dezentralen Entscheidungsstrukturen stark verändert. Das zeigen auch die Kollektive, die wir in der vorliegenden Lerchenfeld-Ausgabe vorstellen: Die Honey-Suckle Company bildete sich Anfang der 1990er Jahre in Berlin in einem Umfeld aus Mode, Musik, Kunst und Subkultur und ihre Mitglieder fühlten sich vor allem über ein gemeinschaftliches Gruppengefühl miteinander verbunden. Das Istanbuler Künstlerinnenkollektiv Oda Projesi richtet sich mit seinen Aktionen und Projekten gegen die Gentrifizierung der Stadt und arbeitet dafür mit unterschiedlichen Nachbarschaften zusammen. Die Initiative Communal Artist Sharing Economy (CASE) setzt sich für mehr Transparenz im Kunstbetrieb ein und fordert neue Finanzierungsmodelle. Und natürlich dürfen die Guerilla Girls in so einer Auflistung nicht fehlen, die seit mehr als 30 Jahren mit künstlerischen Mitteln gegen Sexismus und Rassismus im Kunstbetrieb kämpfen.
Die große Faszination, die von der Idee des Kollektivs ausgeht, ist durchaus nachvollziehbar, denn sie tragen das Versprechen nach Solidarität und Gemeinschaft in sich. Aber die Idealisierung von Kollektivität birgt anderseits auch die Gefahr, reale Hierarchien oder Konkurrenzsituationen zu übersehen oder gar zu legitimieren. Anstelle einer auf Gleichheit beruhenden Solidarität, die trügerisch sein kann, schlägt Richard Sennett deshalb vor, „Formen der Zusammenarbeit zu entwickeln, die uns befähigen, mit Menschen umzugehen, vor denen wir Angst haben, die anders als wir sind, die wir nicht mögen oder die wir schlichtweg nicht verstehen.“[i] Das klingt nach einem pragmatischen Ansatz. Vielleicht kommen wir damit weiter?
[i] Richard Sennett im Gespräch mit The Collective Eye, „Illusorische Gesänge der Solidarität“, in: Kunstforum International, Band 285, 2022, S. 77
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