Die Praxis des Kollektivs auf der documenta fifteen
Dirk Baecker
Kollektive haben im deutschsprachigen Raum nicht den besten Ruf. Man denkt an Behauptungen der Zusammengehörigkeit, die eine individuelle Freiwilligkeit dort suggerieren, wo politische Ideologien in Reserve gehalten werden, die die Mitgliedschaft notfalls auch erzwingen. Man denkt an Drohungen, im Fall des Ausschlusses jeden gesellschaftlichen Anschluss zu verlieren. Es hilft nicht, wenn man etwa in der französischen Soziologie von einem »conscience collective« liest, einem Bewusstsein (und Gewissen), das nicht nur individuell vorliegt, sondern auf rätselhafte Weise von einer kulturell, sprachlich oder ethnisch definierten Gruppe getragen wird.
Das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa hat erkennbar einen anderen Kollektivbegriff . Er beruht auf der Vorstellung des »lumbung«, das heißt auf der Idee des Teilens und gemeinsamen Verwertens von Ernteüberschüssen. Er findet seinen praktischen, symbolischen und rituellen Ort in einem Reishaus, in dem die Ernteüberschüsse gelagert und gemeinsam verzehrt werden. Das kommt einem eher entspannten künstlerischen Begriff des Kollektivs entgegen, der nicht viel mehr meint als die Verabredung zu gemeinsamen Aktivitäten, eine »Komplizenschaft « (Gesa Ziemer), die von wechselseitiger Unterstützung und Hilfe, von gemeinsamen Zielen, aber eben auch von individuellen Wegen und der dafür notwendigen Unabhängigkeit handelt. ^001
Dieser künstlerische Kollektivbegriff erhält bei ruangrupa und den von ihnen auf der documenta fifteen kuratierten weiteren Kunstkollektiven einen programmatischen Wert, der nicht nur die Arbeit der eingeladenen Künstler*innen, sondern auch die Begegnungen mit dem Publikum kennzeichnen sollte. Dem Publikum sollte es ermöglicht werden, durch partizipative Aktionen, gemeinsames Teetrinken und Gespräche an der Arbeit der Künstler*innen teilzunehmen, für einen Moment dem Kollektiv anzugehören. Dieser Absicht kommt ein aktivistisches Kunstverständnis entgegen, dem es um Bewusstwerdung geht und das daher auch auf Seiten der Künstler*innen viel Wert auf das gemeinsame Arbeiten und die Debatte legt.
Sehr viel genauer wird der Kollektivbegriff nicht erklärt. Offenbar verlässt man sich darauf, dass im konkreten Erleben erfahrbar wird, was gemeint ist. Der Begriff wird der Begegnung nicht vorgeschaltet, sondern er wird zum Ergebnis einer Erfahrung, die ihn dann schon nicht mehr braucht. Will man vielleicht etwas pedantisch (oder protestantisch?) dennoch wissen, welcher Kollektivbegriff von dieser Praxis nahegelegt wird, lohnt es sich, an einen soziologischen Kollektivbegriff zu erinnern, den Talcott Parsons vorgeschlagen und Niklas Luhmann ausgebaut hat. ^002 Dabei geht es um politische Kollektive, genauer: um die Frage, wie es dazu kommen kann, dass eine bestimmte Anzahl von Menschen sich an eine politische Gemeinschaft und deren Entscheidungen gebunden fühlt. Es geht um »kollektiv bindende Entscheidungen«, so der Fachterminus zur Bestimmung der Funktion von Politik. Man denkt zunächst an Thomas Hobbes und daran, dass Politik nur möglich ist, wenn Menschen, die nicht ganz zu Unrecht Angst voreinander haben, einem Herrscher, einer Autorität die Berechtigung übertragen, notfalls unter Androhung von Gewalt (Polizei, Gerichte, Militär) für Frieden zu sorgen. Ein Kollektiv wird aus dieser Übertragung von Macht jedoch erst dann, wenn auch der Herrscher, konkret der Staat sich an die von ihm getroffenen Entscheidungen hält. Kollektiv bindende Entscheidungen sind Entscheidungen, die nicht nur eine Bevölkerung, sondern auch die politische Entscheidungsgewalt binden.
Für die Suche nach einem brauchbaren Kollektivbegriff heißt das, dass ein Kollektiv primär durch einen Akt der Selbstbindung entsteht. Eine Bevölkerung unterwirft sich einem Staat, der sich sich selbst unterwirft, zum Beispiel Rechtsstaat wird. ^003 Man kann dann durch Aufstände, Revolutionen und Wahlen immer wieder neu aushandeln, welche Einschränkungen der Bevölkerung unter der Bedingung der Selbstbindung des Staates vor dem Hintergrund der Angst aller vor allen legitim sind.
Der künstlerische Kollektivbegriff ist nicht frei von einem Versuch der Überwindung von Angst. Wichtiger jedoch und entscheidend für die Praxis des Kollektivs ist der Aspekt der individuellen Selbstbindung – wenn auch nicht eines Herrschers, sondern aller Beteiligten, Künstler*innen und Publikum. An die Stelle eines Kalküls der Angst tritt ein Kalkül der Faszination. Man beobachtet Menschen und ihre Aktivitäten, schließt sich ihnen an und verlässt sie wieder. Man stellt seine Bereitschaft, sich einzuschränken, allen anderen zur Verfügung. Man beschwört keine gemeinsamen Ziele, denn die gibt es zunächst einmal nicht, sondern man wuchert mit dem Pfund der Selbstbindung. Etwas pathetisch könnte man formulieren, dass das Kollektiv eine Verzichtsgemeinschaft ist. Man verzichtet auf Handlungsmöglichkeiten, beobachtet diesen Verzicht (und sein Ausmaß) auch bei vielen anderen und lässt sich deswegen auf eine gemeinsame Sache ein, von der sich erst noch herausstellen kann, worin sie besteht. Auf erkennbare Absichten wird man nicht verzichten, aber mindestens ebenso attraktiv ist die Aussicht, es mit bestimmten Leuten zu tun haben, mit einem bestimmten Material arbeiten, eine gemeinsame Zeit miteinander verbringen und zu bestimmten Sachverhalten eine gemeinsame Haltung finden zu können.
Für die künstlerische Praxis ist dieser Kollektiv begriff instruktiv, weil er die Subjektivität aller Beteiligten voraussetzt und hervorruft. Auf eine künstlerische Praxis lässt man sich nur ein, wenn man an einer Wahrnehmung arbeitet, die nur eine individuell erlebte, wie immer von anderen nahegelegte Wahrnehmung sein kann. An einem künstlerischen Kollektiv nimmt man Selbstbindung die Freiheit des Individuums unterstreichen. Alles andere wäre Ideologie. Sehen und Hören, Tasten und Empfinden, Schmecken und Riechen kann ich nur aufgrund meiner individuellen Subjektivität. Es ist die Funktion der Kunst, diese Subjektivität zu adressieren. ^004
In Kassel konnte man im Sommer 2022 während der documenta fifteen erleben, wie ein aktivistisches Kunstverständnis neben dem Protest gegen Unterdrückung, Ungleichheit und Ungerechtigkeit nicht darauf verzichtet, Künstler*innen und Publikum Wahrnehmungen zu ermöglichen, die die Selbsterfahrung des Individuums voraussetzen und stark machen. So erlebte man die Arbeit der Kollektive und so konnte man sich dieser Arbeit für Momente anschließen. Im politischen Kollektiv liegt der Akzent der Selbstbindung auf der Bindung, im künstlerischen Kollektiv auf dem Selbst, ohne die jeweils andere Seite zu vernachlässigen. In Kassel ging es darum, Kollektive zu erleben, die an der Schwelle vom Selbst zur Bindung, von der Kunst zur Politik einen Moment innehalten und ebenso spielerisch wie ernsthaft erkunden, ob und worauf man sich einlässt. Als künstlerisches Kollektiv bewährt sich eine Komplizenschaft, die man auch wieder verlassen kann, wenn es nur dabei bleibt, dass ein Subjekt sich gefunden hat.
001: Gesa Ziemer, Komplizenschaft : Neue Perspektiven auf Kollektivität, transcript Verlag, 2013; und Kai van Eikels, Die Kunst des Kollektiven: Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie, Fink Verlag, 2013.
002: Talcott Parsons, „Social Systems», in: ders., Social Systems and the Evolution of Action Theory, Free Press, 1977, S. 177–203, hier S. 186, mit Verweis auf Formen einer „generalisierten Autorität»; und Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Suhrkamp Verlag, 2000, S. 87f.
003: Dass diese Selbstbindung in vormodernen Formen der Herrschaft auch auf der Einschränkung des Handlungsspielraums der „Könige» beruhen konnte (Verbot der Annäherung, Verpflichtung auf Aufenthalt in Palästen, sperrige Kleidung), liest man bei Sigmund Freud, Totem und Tabu: Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Fischer Taschenbuchverlag, 1991.
004: Dirk Baecker, „Zu Funktion und Form der Kunst», in: ders., Wozu Gesellschaft?, Kulturverlag Kadmos, 2007, S. 315–343; Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Suhrkamp Verlag, 1995.