Extended Library als Proberaum
Die von Margarita Tsomou kuratierte Reihe von diskursiven und künstlerischen Aktivierungen transformiert die Extended Library im Wintersemester 2023/24 in einen Bewegungs- und Aktionsraum. In der Auseinandersetzung mit diesem Gegensatz liegt das Potenzial, die Modi der Konzeption und Produktion von Wissen zu befragen.
In diesem Cross Space, der zum Lesen, Schreiben oder Denken aber auch zum Performen, Trainieren, Tanzen oder Liegen, als gleichwertige Angebote von Wissenspraktiken, einlädt, können Codes und Hierarchien tradierter Wissensordnungen herausgefordert werden. Der Einzug von Operationen des Körpers in einen institutionalisierten Lernraum wie einer Hochschulbibliothek, lässt die Extended Library zu einem Proberaum werden, um die Grundbedingungen moderner Epistemologie zu befragen: Mit künstlerischen Forschungsexperimenten, Performance-Lectures, Ritualen, Tänzen, Tönen und Aktionen lädt der Proberaum dazu ein, sowohl Kritik als auch das Verlernen der etablierter Wissensformen zu üben und mittels verleiblichter Wissensproduktion die gegenwärtige epistemologische Krise inmitten planetarischer Ruinen zu adressieren.
In Anbetracht der Tatsache, dass die modernen Wissenschaften und ihre Wissensinfrastrukturen und -apparate im Zuge gewaltsamer Trennungen zwischen einem konstruierten „Mensch-Mann“, als Prototyp des Humanen und den Kolonisierten, Rassifizierten, Feminisierten und Naturalisierten „Anderen“ entwickelt wurden, navigiert die Reihe zwischen Positionen, die epistemologische Paradigmenwechsel vorschlagen.
Das Programm folgt diesen Gedankengängen mit Beiträgen von Claire Cunningham, Jule Flier/Antonia Baehr, Isabell Spengler, Agata Siniarska, Martha Hincapié Charry, Lina Majdalanie oder dem Fundus Forschungstheater.
Prof. Dr. Margarita Tsomou ist Kuratorin für Theorie und Diskurs am Theater Hebbel am Ufer in Berlin und Professorin für Zeitgenössische Theaterpraxis an der Hochschule Osnabrück.
Programm der Extended Library
22. Mai 2024: Robert Walser-Sculpture - eine Präsentation von Thomas Hirschhorn
Eine Präsentation von Thomas Hirschhorn und ein anschließendes Gespräch mit Tsaplya Olga Egorova und Dmitry Vilensky (Chto Delat).
“Be an Outsider! Be a Hero! Be Robert Walser!“ – unter diesem Motto bespielte Thomas Hirschhorn im Sommer 2019 den Bahnhofplatz Biel für 86 Tage.
Robert Walser-Sculpture ist eine Arbeit im öffentlichen Raum, die in Biel/Bienne zusammen mit Einwohner*innen der Stadt zu Ehren des Schweizer Schriftstellers Robert Walser entstanden ist. Thomas Hirschhorn wird von seinen Erfahrungen mit dieser spezifischen Arbeit im öffentlichen Raum berichten und dabei auf einige der wichtigsten Entscheidungen hinweisen, die für Kunst im öffentlichen Raum getroffen werden müssen: Verpflichtung, Ort, Dauer und Wirkung.
Im Rahmen des Blockseminars The Lexicon of Emergency and the questions of pedagogy.
Thomas Hirschhorn wurde 1957 in Bern, Schweiz, geboren. Nach seinem Studium an der Kunstgewerbeschule Zürich zog er 1983 nach Paris, wo er seither lebt und arbeitet.
Seine Arbeiten wurden in zahlreichen internationalen Ausstellungen präsentiert, darunter die Skulptur Projekte Münster (1997), die Biennale von Venedig (1999 und 2015), wo er 2011 die Schweiz vertrat, die Documenta11 (2002), 27. Sao Paolo Biennale (2006), 55. Carnegie International, Pittsburg (2008), La Triennale im Palais de Tokyo, Paris (2012), 9. Shanghai Biennale (2012), Manifesta 10 in Saint-Petersburg (2014), Atopolis Mons (2015), Kochi-Muziris Biennale (2018), Steirischer Herbst, Graz (2021). Weitere Einzelausstellungen fanden u.a. im Art Institute of Chicago (1998), Museum Ludwig, Köln (1998), Bonnefanten Museum, Maastricht (2005), Institute of Contemporary Art, Boston (2005), Museum Tinguely, Basel (2013), South London Gallery (2015), Kunsthal Aarhus, (2017), Museum Villa Stuck, München (2018), GL Strand, Kopenhagen (2021) statt.
Im Laufe der Jahre hat Hirschhorn mehr als siebzig Werke im öffentlichen Raum geschaffen, in denen er die Autonomie, die Urheberschaft und den Widerstand eines Kunstwerks in Frage stellt und die Macht der Kunst behauptet. Zu diesen anspruchsvollen Projekten gehören Musée Précaire Albinet (Aubervilliers, Frankreich, 2004), The Bijlmer Spinoza Festival (Amsterdam, 2009), Flamme Eternelle (Palais de Tokyo, Paris, 2014), What I can learn from you. What you can learn from me (Critical Workshop) (Remai Modern, Saskatoon 2018), und die Robert Walser-Skulptur (Fondation Exposition Suisse de Sculpture, Biel, Schweiz, 2019).
16. Mai 2024: HECATOMB II - Integration: movements and rituals for the renewal of the world
Video installation and performance by Martha Hincapie Charry followed by a conversation with Margarita Tsomou.
HECATOMB II - Integration: movements and rituals for the renewal of the world bringt drei First Nation Repräsentanten aus den so genannten Amerikas (Kolumbien, USA und dem Amazonas-Regenwald) zusammen, die das Wissen und die Weisheit ihrer Vorfahren schützen und teilen und es durch traditionelle Tänze, Lieder und Zeremonien zum Ausdruck bringen.
Im antiken Griechenland war HECATOMB die Opferung von hundert Ochsen in den religiösen Zeremonien der Griechen und Römer. Im übertragenen Sinne wird „hecatomb“ verwendet, um die Opferung oder Zerstörung einer großen Anzahl von Menschen oder Tieren durch Feuer, Sturm, Krankheit oder Schwert zu beschreiben, aber auch für die umfassende Zerstörung unbelebter Gegenstände und sogar geistiger und moralischer Eigenschaften.
HECATOMB II ist eine 3-Kanal-Videoinstallation, die mit einer Live-Performance korrespondiert, bei der das Publikum den indigenen Oberhäuptern begegnen. Dieser Vorschlag erkennt das überlieferte Wissen der Eingeborenen als eine Wissenschaft an, die auf heilenden Technologien basiert, die das Gleichgewicht des Planeten anstreben.
Folgende indigene Repräsentant*innen wurden zur Teilnahme eingeladen: Petra Gouriyu & die Arralia-Gemeinschaft, Wayúu-Volk, La Guajira-Wüste, Shane Weeks - Shinnecock First Nation, Long Island NY und Aimema Úai - Muruy Muina-Volk, Amazonas-Regenwald.
11. April 2024: 4 Legs Good - Lecture Demonstration by Claire Cunningham
Claire Cunningham, eine der bekanntesten und international renommiertesten Künstlerinnen mit Behinderung Großbritanniens, präsentiert eine Lecture Demonstration, die ihre künstlerische Praxis erforscht.
Claire wird über die Entwicklung ihrer künstlerischen Laufbahn sprechen, wobei sich ihr Fokus von der Erforschung der Beziehung zwischen ihren Krücken und ihrem Körper hin zu der Frage verschiebt, wie ihre Krücken sie mit der Welt verbinden.
Sie wird ihren eigenen einzigartigen Bewegungsstil Quanimacy demonstrieren und zeigen, wie sie durch den Gebrauch/Missbrauch, das Studium und die Verformung ihrer Krücken beeinflusst wird. Formales Tanztraining und traditionelle Techniken lehnt Claire ab, da sie für nicht behinderte Körper entwickelt wurden. Sie wird erörtern, wie ihre Arbeit von ihrer gelebten Erfahrung mit Behinderung geprägt ist und was ihre Wirkungen sind auf die Art und Weise, wie die Gesellschaft über Wissen, Wert, Verbindung und gegenseitige Abhängigkeiten nachdenkt.
Es handelt sich um eine informelle Veranstaltung in entspannter Atmosphäre, bei der man es sich im Publikumsraum gemütlich machen kann. Es wird Gebärdensprachdolmetscher geben und eine Vielzahl von verschiedenen Sitz- und Liegemöglichkeiten.
Der Abend wird von Margarita Tsomou (Professorin für Zeitgenössische Theaterpraxis an der Hochschule Osnabrück und Kuratorin für Theorie und Diskurs am Hebbel am Ufer in Berlin) eingeleitet und moderiert.
12. Januar 2024: TonTänze/Die Hörposaune/The Body is the Glitch
Performativer Film- und Vortragsabend mit Isabell Spengler, Antonia Baehr, Jule Flierl und Margarita Tsomou
Das Programm setzt sich mit Partituren im erweiterten Sinn auseinander und begreift sie als Methode, um gemeinsam mit dem Publikum in der Extended Library über die Wahrnehmung, das Lesen und Interpretieren von Welt zu reflektieren.
Zum Auftakt des Programms performen Antonia Baehr und Jule Flierl live das Duet TonTänze. Anschließend präsentieren Isabell Spengler, Antonia Baehr und Jule Flierl ihre Arbeit Die Hörposaune - Film, die durch den Impulsvortrag The Body is the Glitch von Margarita Tsomou vokalisiert, kommentiert und weiterentwickelt wird.
TonTänze (eine Auswahl) von und mit Antonia Baehr und Jule Flierl
TonTanz ist eine konzeptuelle Erfindung von Valeska Gert. Mit dem Begriff bezeichnet sie die Bewegung von Stimme im Körper und verabschiedet sich damit vom Klischee der stummen Tänzerin. In dieser Auswahl beziehen sich Baehr und Flierl auf das TonTanz-Genre, das neue Beziehungsformen von Körper, Tanz und Stimme eröffnet.
Ore of Peace - 2018 - Jule Flierl
My Dog is my Piano - 2012 - Antonia Baehr
A wie Arsen - 1972 - Ruth Wolf-Rehfeldt
Dissociation Study - 2017 - Jule Flierl
HA HA HA - 2007 - Henry Wilt 2.
Die Hörposaune
Film von Isabell Spengler, Antonia Baehr und Jule Flierl, inszeniert in einer visuellen Installation von Nadia Lauro.
Durch eine schwebende Kameraführung lässt uns der Film eintreten in eine eigene Welt der Membranen, der verflüssigten Grenzen und der Öffnungen zwischen inneren und äußeren Räumen. Hier treffen wir auf eine Vorleserunde oder Stimmperformance in Andenken an die queere Ikone, den Altus Klaus Nomi, eine der ersten öffentlichen Persönlichkeiten, die im Zuge der AIDS-Pandemie starben. Der Film taucht tagtraumähnlich in die Eingeweide fantastischer queerer Körpervorstellungen ein, mit Spucke, Hecheln, Mundraumklängen, Gesang und vulvaartigen Blumenarrangements aus Papier, wobei anatomische Darstellungen neu interpretiert werden.
ENTFÄLLT - 7. Dezember 2023: BITE. Performative Forschungspräsentation von Agata Siniarska im Rahmen des Projekts Museum of the Anthropocene
Willkommen im Museum des Anthropozäns - inmitten von Bakterienkolonien, taxidermischen Kreaturen, allgegenwärtigen Gespenstern, Maschinentieren, Bomben, auslaufendem Öl aus den Mündern sterbender Organismen - alles vom menschlichen Körper performt. Ontologischer Status: unmöglich, aber mühsam versucht.
In den letzten Jahrhunderten hat der Mensch mit aller Kraft versucht, sich von nicht-menschlichen Organismen und nicht-menschlicher Materie abzugrenzen, obwohl diese Aufgabe unmöglich ist. Die performative Forschung und Praxis von Agata Siniarska sind Vorschläge, einen Bezug zu nicht-menschliche Wesen herzustellen und diese Versuche zu teilen. Es sind keine Lösungen, sondern Versuche, die die choreografischen Parameter von Zeit, Raum, Bewegung und Körper ungeschickt durcheinander bringen. Diese ständigen Proben schaffen Wissen, das Möglichkeiten bietet, das menschliche Sensorium, die körperliche Vorstellungskraft zu erweitern und so dem Nicht-Selbst näher zu kommen.
Wie können diese Experimente archiviert werden? Was wäre, wenn die Menschen die Materie nicht konservieren/einfrieren/aufzeichnen, sondern sie ihren eigenen Bedingungen überlassen und ihr erlauben, sich zu verwandeln? Können wir uns das Archiv als etwas Mobiles vorstellen, das der Bewegung folgt, anstatt sie zu verhindern? Wie ist das Archiv mit der Welt verbunden und wie sehr brauchen Archive eigentlich den Menschen?
Agata Siniarska arbeitet auf dem Gebiet der erweiterten Choreografie. Sie platziert ihre Praxis zwischen dem, wie wir über die Welt denken und wie wir uns in ihr bewegen. Es ist ein Ort, an dem sich Somatik und Politik überschneiden - ein Ort, an dem Körperwahrnehmung auf soziales Engagement trifft - zwischen somatischen und ökologischen Landschaften, zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Körpern. Agatas derzeitige Forschung erforscht die Idee eines Museums des Anthropozäns, Multi-Spezies-Archive in Zeiten von Krieg und Aussterben sowie verschiedene menschliche und nicht-menschliche Allianzen.
Dieser Termin musste leider krankheitsbedingt abgesagt werden.
11. Oktober 2023: Eröffnung
Eröffnung der Extended Library mit einem Vortrag von Anselm Franke zur Bedeutung des Werks von Sylvia Wynter und eine performativ-partizipative Lesung von Sarah Lewis-Cappellari, die die Extended Library in einer Ceremony of Loss in einen Proberaum für Nicht-Wissen verwandelt.
Im Zentrum des von Margarita Tsomou kuratieren inhaltlichen Programms der neuen Extended Library stehen performative Darstellungsformen und -formate. Dafür wurde der 150 Quadratmeter große Vorraum der Bibliothek in einen transdisziplinärer Lern-, Arbeits- und Diskursraum verwandelt. Das künstlerisch-experimentelle Studio stellt Verknüpfungen zu multiplen Öffentlichkeiten her – sowohl innerhalb als auch außerhalb der Hochschule.
Bestandteil der Extended Library ist auch die neue Arbeit Group Hug (2023) von Valentina Karga, Grundlagenprofessorin für Design an der HFBK Hamburg.