Wankende Räume der Versammlung
Die Künstlerin, Verlegerin und HFBK-Absolventin Anja Dietmann hat mit der Bar Collo im Kunstverein Harburger Bahnhof einen Ort für Bücher, Performances und Versammlung geschaffen. Im Gespräch mit unserem Autor geht sie auf ihre Beweggründe und das große Netzwerk ein.
Bücher bilden nur noch selten einen Versammlungsgrund, im Zuge der Digitalisierung haben sich tradierte Orte des geteilten Wissens radikal verändert: Indem Wissen einerseits zwar demokratisiert und zumindest freier zugänglicher wurde, erfuhren andererseits die »alten« Institutionen der Wissenssammlung einen Bedeutungsverlust. Texte und Bücher sind jetzt nicht mehr in langen, stillen Fluren mit robustem Teppich zu finden, sondern von überall quasi ortlos aus Clouds abrufbar. Waren öffentliche Bibliotheken vormals Orte der Versammlung, an denen unterschiedliche Teilnehmer*innen zusammenkamen und sich um einen sogenannten »matter of care«, das heißt ein gemeinsames Anliegen und geteilten Dingen von Belang zu versammeln und auszutauschen, droht genau diese Dimension durch die digitale Transformation zu verschwinden.
Martin Karcher: Ich möchte mit dir über öffentliche Orte von Büchern sprechen, konkret über dein Display im Kunstverein Harburger Bahnhof. Bitte stell dich und deinen persönlichen Weg zum Buch vor.
Anja Dietmann: Da muss ich an meine ersten Kinderbücher denken, bei denen ich die Illustrationen mit Filzstift-Kreisen ergänzt habe. Heute sind es Linien, weil ich in Büchern mit einem Marker anstreiche und mir Notizen mache. Bücher und Magazine sind Teil meiner künstlerischen Praxis – um zu lernen, im Austausch zu sein und um die Publikation auch auszustellen. Christiane Blatt mann und ich veröffentlichten während des Studiums 2012 im Materialverlag der HFBK Hamburg das Pfeil Magazine, eine gedruckte Ausstellung im Magazinformat. Um über Bücher und Magazine eine Plattform für Künstler*innen zu generieren, kam es 2013 mit Kommiliton*innen nach dem Abschluss zu der Gründung von Montez Press, worüber jetzt das Pfeil Magazine verlegt wird.
Martin Karcher: Wie war dein Verhältnis zur Bibliothek der HFBK Hamburg? War das für dich ein wichtiger Ort?
Anja Dietmann: Während des Studiums war ich dort jeden Tag und im Gespräch mit den Bibliotheksmitarbeiter*innen. Zum einen, weil ich mich gerne unterhalte und zum anderen, weil es damals – anders als heute – keine Freihand-Bibliothek war. Durch das Gespräch wurde ich durch meine Ausleih-Historie auf andere und ähnliche Publikationen von und über Künstler*innen aufmerksam, die ich bislang nicht kannte und die mir Google nicht gezeigt hätte.
Martin Karcher: Im Kunstverein Harburger Bahnhof hast du ein Jahr lang die Bar Collo betrieben, eine Art kuratorisches Gastspiel. Teil der Bar war das Buchdisplay Bar Collo Display, für das du jeden Monat einen anderen Verlag eingeladen hast, um Publikationen vorzustellen. Wie kam es zur Idee mit dem Display?
Anja Dietmann: Der Leiter des Kunstvereins Harburger Bahnhof, Tobias Peper, hatte mich angefragt, die Intention des Pfeil Magazines mit eigener künstlerischer Beteiligung in den Raum zu übertragen. Meine Idee war, ein Performance-Programm zu kuratieren, das sich auf das Barleben selbst bezieht. Außerdem sollte es auch ein Bücherregal geben, in dem Verlage mit einer Auswahl ihrer Publikationen vorgestellt werden und in denen die Besucher*innen des Kunstvereins blättern können. Mit der Idee des Displays hatte ich am Anfang gehadert – ich wusste nicht, wie die Vermittlung aussehen könnte und es gab kein Budget für den Ankauf von Publikationen. Tobias hatte dann aber die Idee, die Verlage auf der Webseite des Kunstvereins vorzustellen und nach Buchspenden zu fragen, die am Ende des Turnus auf einem Bücherflohmarkt verkauft werden können. Die Idee des Displays war auch gleichzeitig eine Reaktion auf die aktuelle Situation in Hamburg. Es gibt einen großen Mangel an Kunstbuchhandlungen. Die Buchhandlung Sautter & Lackmann hat 2022 geschlossen und lokale Läden, die auf Künstler*innenbücher spezialisiert sind, vermisse ich. Oft bestelle ich die Bücher direkt bei den Verlagen oder bei Online-Buchhandlungen. Die analoge Gegenüberstellung, Nähe, Anordnung zu ähnlichen Autor*innen und Themen ist dann aber nicht gegeben und es gibt keine Beratung. Außerdem kostet das Porto manchmal so viel wie das Buch selbst.
Martin Karcher: Es war sicher nicht leicht, eine Auswahl zu treffen. Wie bist du vorgegangen?
Anja Dietmann: Bei der Einladung baten wir die Verlage, drei bis fünf Bücher aus ihrem Programm selbst auszusuchen. Bei der Auswahl für das Bar Collo Display lag der Fokus auf Verlagen, die auf Künstler*innenbücher spezialisiert sind, Bücher die nicht über, sondern von Künstler*innen verfasst sind und in denen Sprache direkt und experimentell verwendet wird. Die meisten Kataloge dokumentieren vor allem vergangene Ausstellungen. Mich persönlich interessiert aber, wenn der Buchraum selber wie ein Ausstellungsraum genutzt wird. Außerdem wollte ich Verlage außerhalb Hamburgs einladen, um Entdeckungen zu ermöglichen. Entscheidend war dann letztlich auch ein sprachlicher Zugang zu den Büchern. Der Fokus lag auf deutscher und englischer Publikationssprache, wobei es wahnsinnig schön gewesen wäre, den europäischen und US-amerikanischen Kontext zu erweitern. Die erste Einladung ging an den Londoner Verlag Book Works, der mit jungen Künstler*innen und permanenten öffentlichen Ausschreibungen arbeitet. Im zweiten Monat hatte ich Primary Informati on eingeladen, die sich in ihrem Programm mit der Beziehung von Künstler*innenbuch und Kunstaktivismus auseinandersetzen. Um Verlage in das Display mit einzubeziehen, die ich selbst noch nicht kannte, bat ich die bereits eingeladenen Verlage, Vorschläge für die darauffolgenden Monate zu machen. Bei den Empfehlungen handelte es sich dann auch um Verlage, die ich selbst schon auf meiner Wunschliste hatte. Jonas von Lenthe (auch ein HFBK-Absolvent) von Wirklichkeit Books machte mich zum Beispiel auf den Berliner Verlag TLTRPreß aufmerksam und so kamen wir zum Frankfurter Bauer Verlag, der Texte von jungen Künstler*innen und Freund*innen publiziert.
Martin Karcher: Gab es Verbindungen zu deinem Ausstellungs- und Performanceprogramm in der Bar Collo?
Anja Dietmann: Der Künstler Jan Matté, der über das Schreiben von Songtexten zum Publizieren kam und den wir im Januar 2023 für eine Lesung eingeladen hatten, brachte die Publikationen von seinem Verlag Risiko Press aus Antwerpen mit. Claudia Pagès Rabal, die im Juni in der Bar Collo performte, war wiederrum zufällig mit einem Beitrag bei den Büchern dabei, die von der TLTRPreß eingereicht wurden. Das Programm war neben Performance und Musik auch auf Sprache, also Text, angelegt, insofern gab es eine inhaltliche Überschneidung zu Bar Collo Display – aber es war nicht explizit angedacht.
Martin Karcher: Was mich abschließend interessieren würde, wäre dein eigenes Verhältnis und dein Umgang mit Büchern.
Anja Dietmann: Ich nehme Bücher überall mit hin. Manche brauchen einen sensitiven Umgang, die lasse ich dann zu Hause. Aber andere nehme ich zum Beispiel mit in die Sauna. So musste ein Buch von Eileen Myles neulich 90 °C aushalten. Die Bindung ist geschmolzen, aber als das Buch abgekühlt ist, hat es sich wieder von selbst zusammengeklebt. Bücher sind für mich Gebrauchsgegenstände, ich verleihe gerne Bücher, aber wenn ich mir selbst eins leihe, nehme ich es nicht mit in die Sauna oder streiche an. Wenn ich selbst mit (fremden) Texten arbeite, ist der Moment des Editierens für mich eine Form eines schriftlichen Gesprächs oder einer Diskussion, indem Kommentare zum Text ausgetauscht werden.
Dr. Martin Karcher ist Erziehungswissenschaftler, Ausstellungsmacher und ab Herbst 2023 kuratorische Assistenz im Kunstverein Hamburg. Zudem folgt er auf Anja Dietmann mit der Kuration des Barraumes im Kunstverein Harburger Bahnhof.
Anja Dietmann ist Künstlerin, Herausgeberin des Pfeil Magazines und Gründungsmitglied des Verlags Montez Press. 2022/23 bespielte sie den Barraum des Kunstvereins Harburger Bahnhof mit dem Projekt Bar Collo, dessen Name sich aus dem Italienischen barcollo - ich wanke ableitet. 2013 schloss sie ihr Diplom-Studium bei Prof. Andreas Slominski an der HFBK Hamburg ab.
Alle Bücher des Bar Collo Displays wurden bei einem letzten Bücherflohmarkt während der Eröffnung der Ausstellung It's Human Nature? am 1. September 2023 im Kunstverein Harburger Bahnhof verkauft . Der Erlös geht an die Gays & Lesbians Living in a Transgender Society (G.L.I.T.S.).
Dieses Interview erschien zuerst in der Oktoberausgabe 2023 des Lerchenfeld-Magazins.