Ein Ort der Stille
Ein Text von Ali Quaiesa und Chinook Schneider
In immer unterschiedlichen Konstellationen lässt sich die soziale Installati on des Reading Shelters in variierenden Räumlichkeiten nieder. Bisher waren wir mit unserem Projekt in der Galerie 21, in der Fabrik der Künste, in den leerstehenden Räumen des ehemaligen Spielzeugladens in der Schanzenstraße und im Freiraum des Museums für Kunst & Gewerbe Hamburg ansässig. Zu den Modulen des Raumes gehören immer geliehene Sitzgelegenheiten, eine von uns kuratierte Auswahl an Büchern, Blumenarrangements, Kunstwerke, Keramikschüsseln und eigens hergestellte Fermente, die in Weckgläsern im Raum drapiert werden und natürlich den Personen, die dem Raum das soziale Element verleihen: den Lesenden.
Die jeweils temporären Räume bieten eine ausgewählte Lektüre zum Lesen vor Ort und variieren je nach Standort in ihrer Komposition. Die Bücher wandern mit den Besucher*innen über den Zeitraum hinweg durch den Raum und finden sich immer in kleinen Gruppen an den Leseinseln, die aus den verschiedenen Möbelstücken entstehen. Für die Gestaltung arbeiten wir mit Möbelhändler*innen, Künstler*innen, Buchhändler*innen und Florist*innen aus Hamburg eng zusammen.
Die Keramikschüsseln, oder auch Schweineohrschüsseln, sind mit gestischen Strichen in Rot, Schwarz und Blau versehen, die nooks Skizzenbuch haben. Eine Motivation für den Reading Shelter besteht darin, einen Raum zu schaffen, der eine möglichst ruhige und einladende Atmosphäre zum Lesen vermitteln soll. Im Schanzenviertel war es tatsächlich ein Raum der Stille, im Freiraum allerdings gab es eine parallel eine offene Gesprächsatmosphäre, die durch den Betrieb des Museums und der Gäst*innen im Freiraum bedingt war. Der Raum interveniert in den Tumult der Stadt und bietet einen Gegenpol zum Trubel des Alltags. Die Art und Weise der Atmosphäre, die wir an dem jeweiligen Ort kreieren, soll einen Schutz- und Rückzugsort darstellen. Etwas Vergleichbares haben wir bisher nicht in der Stadt gefunden und bieten einen solchen Raum darum selber an. Zur temporären Aktivierung des Raumes und damit der Installation haben wir Lesungen veranstaltet, in der unter anderem Ali aus ihrer Master-Arbeit gelesen hat. Abgesehen davon ist ein Element des Raumes stets lebendig und in Bewegung: die Weckgläser beherbergen Bakterien und Kulturen, die sich unentwegt in Gärungsprozessen befinden.
Entstanden ist das Projekt aus der Sehnsucht heraus, die Chinook während seiner jahrelangen Besuche in Bibliotheken an seinen jeweiligen Wohnorten Leipzig und Hamburg hegte und dabei immer das Gefühl hatte, etwas zu vermissen. Als er 2015 in der Stadt Tainan im Süden Taiwans das Projekt ROOM A kennenlernte, das zwischen Café und Bibliothek changiert, beeindruckte und inspirierte ihn das Konzept des liebevoll gestalteten Raumes zum Entdecken von Texten und Bildern. Umgeben von Magazinen, künstlerischen Arbeiten und kleinen Häppchen und mit seiner ganz speziellen Atmosphäre, schrieb er dort Teile seiner Bachelor-Arbeit. Über die nächsten Jahre ließ er seine eigene Interpretation eines Leseraumes daraus erwachsen. Ali Quaiesa fügte ihre Vision sachte hinzu und so entstanden die ersten Reading Shelter.
Rückblickend bleibt ein bestimmtes Ensemble aus Objekten im Reading Shelter in der Schanzenstraße im Gedächtnis, ein persönlicher Lieblingsort innerhalb des Raumes. Es gab eine Bank, die auf einer Empore im erhöhten, aber hinteren Teil des Raumes stand, eine Art Balkon oder Tribüne. Von dort konnte man bis zur Straße sehen, saß aber gleichzeitig in einer gemütlichen, geschützten Position. Auf einem der vielen Vintage-Tische standen zwei Keramikschalen umgedreht mit rauer, matter, poröser Oberfläche und strichartigen Zeichnungen übersät.
Außerdem konnten wir an diesem Standort die Öffnungszeiten selbst bestimmen. Es war ein großes Anliegen, auch in den Abendstunden geöffnet zu haben, wenn es dunkel ist. Auch den Übergang von Tag zu Nacht konnte man in diesem Reading Shelter sehr bewusst genießen, während man sich in den eigenen Gedanken bewegte, mithilfe eines Textes oder Buches in einen weiteren Raum begab. Raum und Zeit stellten sehr stark wahrgenommene Ebenen in diesen Räumlichkeiten dar: 110 Quadratmeter nur um zu lesen und für wirklich freie Stunden, mitten im Treiben des Schanzenviertels. Die Zeit im Reading Shelter gehört nur einem selbst, den Texten, Gedanken zum Raum, den Fermenten, Möbeln und der Kunst. Die ausgestellte Kunst bestand aus großen und kleinen Skulpturen, Installationen aus Zelt- und Seidenstoff, großen Malereien auf Leinwand und kleinen Zeichnungen von vier Hamburger Künstlerinnen, welche alle auf ihre Weise zum Träumen oder zur Reflektion einluden. Ausgestellt haben Asana Fujikawa, Lulu MacDonald, Gesa Troch (HFBK-Absolventinnen) und Joana Owona, die den Raum mit ihren Arbeiten zu einer Art Schnitt stelle von Bibliothek, Ort der Stille, Ausstellungsraum und sozialem Miteinander zusammengefügt haben. Es war eine bereichernde Erfahrung, den Raum so frei gestalten zu können und vor allem Menschen dahin einzuladen und empfangen zu können, wie in einer persönlichen Galerie.
Der Reading Shelter ist nicht per se ein Raum für alle. Das Konzept richtet sich vor allem an Menschen, die einen Rückzugsraum suchen. Nicht vor Wind und Wetter oder um den Raum zu vereinnahmen, sondern für Menschen, die ein Umfeld suchen, welches sie in ihrer Fragilität und Sensibilität wertschätzt und spiegelt. Ein Umfeld, welches zu verschiedenen Sinneserfahrungen einlädt: sie zu inspirieren und sei es nur durch Abwesenheit von Ablenkungen wie Alkohol, Drogen oder Digitalität. Leere, Leerstellen in uns und im Raum sowie Stille oder abgedämpft e Geräusche spielen eine wichtige Rolle. Damit meinen wir das Gegenteil von einem vollgestopft en Raum, wie beispielsweise ein Restaurant oder eine Bücherei, deren Bedeutung und Zweck klar ausgerichtet sind. Es ist ein großes Privileg in der Stadt, so viel unbesetzten Raum vorzufinden, der nicht sagt: Hier´wird Kunst angeschaut und danach geht bitte wieder. Gleichzeitig ist es natürlich auch ein Wagnis und eine Schwierigkeit, sich Zeit für so einen Ort zu nehmen bei dem alltäglichen Zwang, Geld für Miete, Versicherung und Essen zu verdienen, sich als Selbstständige zu promoten, zu reproduzieren. Um den Alltag bewältigen zu können gehört es auch sich zu entspannen, sich um den eigenen Körper zu kümmern, das eigene Umfeld zu pflegen. Der Reading Shelter soll sich anfühlen wie ein privater Raum, aber ohne den Ballast eines persönlichen Lebens.
Es ist kein Ort, indem man sich etwas aussucht, konsumiert und danach wieder seines Weges geht, sondern der Sinn liegt gerade darin zu bleiben und zu verharren, auch ohne etwas zu konsumieren oder nach etwas Ausschau zu halten. Das Ziel ist die Einladung zu sich selbst zu kommen, bei sich selbst zu sein und in sich einzukehren, Erfahrungen zu machen durch Gespräche mit anderen Leser*innen. Es kann auch ein Ort der gemeinsamen Forschung und Diskussion sein, um sich über zeitgenössische Fragen und Erkenntnisse zu Potenzialen und Utopien auszutauschen, immer im Kontext intersektionaler Fragestellungen und Prinzipien.
Ali Quaiesa hat ihr Master-Studium an der HFBK Hamburg im Studienschwerpunkt Zeitbezogene Medien bei Prof. Simon Denny 2021 abgeschlossen, Chinook Ulrich Schneider sein Master-Studium im Studienschwerpunkt Film im Jahr 2019. Das Projekt Reading Shelter veranstalten sie gemeinsam seit 2021 an wechselnden Orten in Hamburg über unterschiedliche Zeiträume.
Mehr Informationen gibt es auf der via Email und dem Instagram-Account.
Der Artikel erschien zuerst in der Oktoberausgabe 2023 des Lerchenfeld-Magazins.