Am Ende des Regenbogens eine Bücherkiste
Im Sommer 2022 eröffnete die HFBK-Absolventin Anna Unterstab mit Mitstreiter*innen in Wilhelmsburg die Bücheria, eine feministische und queere Stadtteilbibliothek. Mit Anne Meerpohl spricht sie über die Genese des inzwischen kollektiv betriebenen Projekts.
Anne Meerpohl:
Seit etwas mehr als einem Jahr gibt es euer queer-feministisches Bibliothekskonzept in Wilhelmsburg. Wie ist es zur Entstehung der Bücheria gekommen?
Anna Unterstab:
Das Konzept für die Bücheria war meine Master-Abschlussarbeit an der HFBK Hamburg als Social Design-Projekt. Ich wohne schon seit sieben Jahren im Reiherstiegviertel und fühle mich sehr verbunden mit dem Stadtteil. Gleichzeitig hat mir schon lange ein Ort für feministischen Austausch gefehlt, der offen für die Nachbarschaft und vor allem einladend ist. In den letzten Jahren ist durch steigende Gewaltdelikte deutlicher geworden, dass öffentliche Räume für queere Personen und Frauen oft nicht sicher sind. Mir ist dadurch bewusst geworden, wie wichtig es ist, uns zu vernetzen und dass es einen »safer space«* braucht. Deswegen ist der Raum eher als niedrigschwelliger Treffpunkt gedacht. Ich habe lange überlegt, was das Material sein könnte, das dazu beiträgt, zusammenzukommen und sich auszutauschen. So bin ich bei Büchern gelandet. Für viele Feminist*innen und auch für mich selbst hat die Auseinandersetzung mit Literatur erst dazu geführt, zu verstehen, inwieweit das System in das eigene Leben eingreift. Sie hat mir gezeigt, wie allgegenwärtig Machtstrukturen sind und wie persönlich sich Benachteiligung auswirkt, und mir geholfen, mich mit diesem neuen Wissen stückchenweise davon zu befreien. Bücher bedeuten also auch Empowerment. Ganz wichtig für das Projekt ist unsere Gruppe. Mithilfe von Flyern und Aushängen im Stadtteil hat sich recht schnell eine große Gruppe von Ehrenamtlichen gebildet, die Lust hatt en, sich zu beteiligen. Seitdem wird das Projekt vom Bücheria-Team inhaltlich geformt, weiterentwickelt und betr eut. Aktuell besteht die Gruppe aus sechs Personen.
Anne Meerpohl: In einer queer-feministischen Bibliothek stelle ich mir eine kuratierte Auswahl an Büchern vor, mit einem bestimmten Blick auf Geschichten, Perspektiven und Autor*innen. Wie geht ihr in eurem Auswahl- oder Entscheidungsprozess vor und welche Kriterien bestimmen den Inhalt der Bücherregale?
Anna Unterstab: Wir hatten etwas Geld vom Beirat für Stadtteilentwicklung bekommen, womit wir die ersten 50 Bücher gekauft haben. Die Auswahl bildet unser intersektionales Feminismus Verständnis ab. Dabei war es auch wichtig, primär keine hochschwellige Theorieliteratur zu sammeln, sondern Comics und Jugendliteratur zum Beispiel. Vor allem die Sichtbarkeit queerer und weiblicher Autor*innen ist uns wichtig: Das kann sowohl über starke Protagonist*innen in einem Roman geschehen als auch in einem Gedichtband oder Kinderbuch deutlich werden. Bei unseren ersten Veranstaltungen haben wir Wunschlisten ausgelegt, in die Besucher*innen ihre Bücherwünsche eintragen konnten, die wir dann, sobald wir Fördergelder hatten, angekauft haben. Abgesehen davon gab es auch einige Patenschaften für Bücher, bei der Unterstützer*innen ein Buch aus der Liste spendiert haben. Bald haben wir viele Bücherspenden bekommen und es ist spannend zu sehen, was alles für unterschiedliche Bücher nach wie vor vorbeigebracht werden. Zum Beispiel haben wir inzwischen fünf Ausgaben von Radikale Zärtlichkeit von Şeyda Kurt, einem sehr aktuellen Sachbuch. Und wir haben auch viele aussortierte Bücher von Autor*innen älterer Generationen erhalten, wie Romane von Isabelle Allende. Ich bin dadurch selbst auf feministi che Figuren und ihre bewegten Lebensgeschichten aufmerksam geworden, die ich noch nicht kannte, wie zum Beispiel auf eine der ersten bekannten Trans-Frauen Deutschlands, Charlotte von Mahlsdorf. So richtig viel müssen wir gar nicht aussortieren. Und wir haben in Zusammenarbeit mit dem arabischen Buchladen Khan Aljanub in Berlin arabischsprachige Bücher angekauft .
Anne Meerpohl: Wie würdest du die Arbeit eurer Gruppe oder des Kollektivs beschreiben?
Anna Unterstab: Auch wenn die Bücheria als ehrenamtliche, hierarchieloses Gruppe gedacht ist, in der wir gemeinsam entscheiden, ist es eine ständige Baustelle, um Hierarchien aufzulösen und gut zu kommunizieren. Es ist ein Prozess, manchmal klappt das besser, manchmal noch nicht so gut. Wir arbeiten in verschiedenen Arbeitsgruppen. So gibt es eine Gruppe, die sich um Veranstaltungen kümmert, eine widmet sich der Öffentlichkeitsarbeit und es gibt eine spezifische Bücher- und Bibliotheksgruppe. Diese AGs laufen zusätzlich zu gemeinsamen Plena, die etwa alle zwei Wochen statt finden. Wir haben sehr viele Veranstaltungen organisiert in unserem ersten Jahr und uns dabei ziemlich verausgabt. Die Gruppe hat sich verändert, darum sind wir dabei, ein Selbstverständnis für uns zu finden. Darüber debattieren wir aktuell noch: zum Beispiel darüber, wie aktivistisch das Projekt ist und auch was es für uns Einzelne überhaupt bedeutet politisch zu sein. Bedeutet es zum Beispiel, dass wir als Projekt auch an Demonstrationen teilnehmen und sichtbar sind oder ist es schon ein politischer Akt, einen möglichst einladenden Raum aufzumachen? Da sind wir in einem Aushandlungsprozess.
Anne Meerpohl: Ich finde es sehr politisch einen Raum zu gestalten, der besti mmte Inhalte transportiert, der sich den Platz nimmt und sich auch in Abgrenzung zu anderen Räumen definiert. Aber es ist natürlich eine Frage, welchen Schwerpunkt ein Projekt hat und wie Räume auch dadurch Hürden bekommen, wenn zum Beispiel Diskurse vorausgesetzt werden.
Anna Unterstab: Das finde ich auch. Aus diesem Grund haben wir am Anfang ein halbes Jahr lang sechs wechselnde Monatsthemen zu verschiedenen alltagsfeministischen Themen festgelegt, wie zum Beispiel Schönheit oder Dating. So konnten sich die Interessen der Gruppenmitglieder widerspiegeln, indem eine Kleingruppe das Thema vorbereitet hat und spezifisch dazu Bücher ausgeliehen oder angekauft hat.
Anne Meerpohl: Ihr organisiert regelmäßig Veranstaltungen wie (Comic)Lesungen, Zine- oder Schreibworkshops oder eine Open Mic-Stage. Inwiefern trägt das zu eurem Anspruch eines queer-feministischen Raumes bei? Geht es euch dabei auch um die Aktivierung der Bibliothek im Kontext eines Dritten Raumes?
Anna Unterstab: Ja, das war auf jeden Fall meine Motivation für das Projekt. Im Wohnprojekt RIA, in dem sich unsere Bibliothek befindet, wird schon ein tolles, feministisches Programm angeboten. Aber meine Beobachtung war, dass es vor allem feste Kurse wie Tanzgruppen sind, die sich dort treffen und viele Nachbar*innen gar nicht genau wissen, was dort passiert und es auch selten die Möglichkeit gibt, einfach hinzugehen. Darum dachte ich, dass sich das Format einer Bibliothek gut eignet, um eine Regelmäßigkeit herzustellen und off en für verschiedene Nutzungen zu sein. Man kann einfach kurz vorbeischauen, alleine oder mit der Mutter, Liebhaberin oder einem Freund und eine Limo trinken, sich ein Buch ausleihen oder auch verweilen. In den Bücherhallen Wilhelmsburg schräg gegenüber gibt es natürlich auch tolle Bücher, aber nicht diese Aufenthaltsqualität, die wir versuchen herzustellen. Räumlich ist das noch eine Herausforderung, da der Ort unterschiedlich genutzt wird und wir unsere Bibliothek jedes Mal wieder auf- und abbauen müssen. Das führt dazu, dass das Display immer anders und spontan ist und vom aktuellen Team bestimmt wird. Aber es ist natürlich anstrengend und braucht eine dauerhaftere Lösung. Besonders wichtig sind die Veranstaltungen, die durch die unterschiedlichen Perspektiven und Zugänge der Teammitglieder, die sie konzipiert haben, zustande kommen. Was ich besonders berührend in Erinnerung habe, sind die Open Mic-Abende, bei denen das Publikum selbstgeschriebene Texte vorgetragen hat. Es waren sehr intensive und wirklich beeindruckende Beiträge dabei, die einen intimen und gemeinschaftlichen Raum hergestellt haben. Die jüngste vortragende Person war 15 und die älteste war über 60. Dadurch sind auch viele Facetten von feministischen Themen sichtbar geworden. Es ging unter anderem um Queerness, Einsamkeit, um Care-Arbeit, Poly-Beziehungen, Mutter-Tochter-Beziehungen, Gewalterfahrungen oder die feministische Revolution im Iran. Es war sowohl lustig als auch ernst und manchmal traurig, aber auf jeden Fall ein Abend voller Anknüpfungspunkte.
Anne Meerpohl: Du gestaltest die Bücheria sowohl inhaltlich als auch visuell und hast schon das temporäre Setting erwähnt. Mit welchen gestalterischen Mitt eln bist du im Raum vorgegangen, welche Strategien hast du für die visuelle Gestaltung verfolgt?
Anna Unterstab: Der Aufbau besteht meistens aus einem Set von Teppichen, die zum Teil aus der Nachbarschaft gespendet wurden, sowie Sitzkissen und Kisten, die sowohl Stauraum für die Bücher sind, gleichzeitig als Ablagen dienen. Zusätzlich benutzen wir alles, was wir im Raum finden, wie Stühle oder andere Möbel, um sie als Bücher-Displays zu verwenden. Theoretisch könnten wir die Bücheria also auch woanders aufbauen. Ansonsten gibt es noch einen Fadenvorhang und eine Hängematte, die ebenfalls mobile Elemente sind. Abgesehen davon habe ich mich auf die visuelle Gestaltung der Kommunikationsmittel fokussiert. Bei den Postern und Flyern arbeite ich mit Illustrationen, die einladend aussehen sollen, aber auch widerständige Details haben. Das Erscheinungsbild ist eine Art Baukastensystem, damit auch andere aus dem Team damit arbeiten können. Jedes Poster ist bisher von unterschiedlichen Illustrator*innen aus dem Viertel gezeichnet worden, die Sets an Figuren beigesteuert haben, so dass verschiedene Stile und Elemente das Projekt visuell begleiten und dazu einladen. Für das Logo hat das Team eine meiner Zeichnungen ausgewählt: Es ist eine Zeichnung eines Skateboard fahrenden Buchs in Rock und High Heels. Es gibt außerdem noch Bücherstempel, mit denen wir die Bücher kennzeichnen und den Namen der Person, die das Buch gespendet hat, hineinschreiben, um dadurch dieses Netzwerk an Involvierten sichtbar zu machen. Die Schrift en, die wir benutzen, sind alle aus einem aktivistischen Kontext. Unsere Hausschrift ist Martin, eine Hommage an Martin Luther King Junior, die von Protestpostern der Bürgerrechtsbewegung inspiriert ist und von Tré Seals entwickelt wurde, dem Gründer des Stu dio Vocal Type. Durch diese Details wird subtil eine feministische, antirassistische und intersektionale Botschaft transportiert.
Anne Meerpohl: Die Begriffe Bibliothek und Bücherei werden oft synonym verwendet. Doch schon die Bezeichnung markiert die Zugehörigkeit zu Wissen oder einer Zielgruppe. Inwiefern spielen für euch der konkrete Ort und die Namensgebung als auch die inhaltliche Ausrichtung eine Rolle in Bezug auf Machtgefüge und den Abbau gesellschaftlicher Hierarchien?
Anna Unterstab: Ich denke nicht, dass ich das Projekt von außen betrachten und die genaue Wirkung erfassen kann. Der Name entwickelte sich aus Wortspielen im Team und ich finde ihn total schön und bin froh über die Anknüpfungspunkte, die er zulässt. Manche sagen, es klingt wie Pizzeria. Es klingt mehr nach Bücherei und ich stimme zu, dass es, obwohl es eigentlich das gleiche meint wie Bibliothek, einen anderen Klang hat und Offenheit suggeriert. Dazu gibt es noch den Untertitel, der das Projekt erklärt, damit alle eine Vorstellung von der Ausrichtung haben. Wobei auch diese Vorstellungen eine große Bandbreite haben und wir haben noch lange nicht alles an Ideen und Potenzialen im Team ausgeschöpft . Eine Langfristigkeit ist sowohl bei politischen als auch sozial engagierten Kunst- und Designprojekten essenziell. Es braucht einen langen Atem, bis Menschen davon erfahren und sich angesprochen fühlen. Aber ich denke, nur so kann ein solches Projekt nachhaltig sein und auf Machtgefüge einwirken. Wir wollen auch in Zukunft noch mehr mit anderen lokalen Gruppen, Communities und benachbarten Orten kooperieren, um nicht in einer »Bubble« zu verbleiben. Besonders in einem queer feindlichen Klima und angesichts steigender Gewalttaten ist es wichtig, solche Räume zu schaffen und dann auch zu erhalten. Ich habe ein Video gesehen mit Maya Angelou, die davon berichtet, wie sie als Jugendliche Gewalt erfahren hat und eine lokale Bücherei ihr Zufluchtsort war. Das Lesen dort hat sie emanzipiert und geholfen, diese Situationen zu verlassen. In dem Interview hat sie gesagt: »A library is a rainbow in the clouds« und das hat mich sehr geprägt in der Konzeption und Recherche für das Projekt.
Anne Meerpohl: Wie wird es mit der Bücheria weitergehen, was schmiedet ihr aktuell für Pläne?
Anna Unterstab: Anfang des Jahres hatten wir die queere, jüdische Aktivistin Tamara Loewenstein zu Gast, die mich durch ihren großartigen, eigens für die Veranstaltung verfassten Text dazu inspiriert hat, im Rahmen der Bücheria in weiter Zukunft selbst zu publizieren, vielleicht Zines oder kleinere Editionen herauszugeben und so zur lokalen Wissensproduktion beizutragen.
* Ein »safer space« meint eine Art Schutzraum, in dem möglichst gewalt- und diskriminierungsfrei gehandelt und kommuniziert werden soll.
Anne Meerpohl absolvierte im Sommer 2022 ihren Master of Fine Arts an der HFBK Hamburg bei Prof. Dr. Astrid Mania und Prof. Jutta Koether.
Anna Unterstab arbeitet an der Schnittstelle von Design, Kunst und Vermittlung und hat 2022 ihren Master-Abschluss an der HFBK Hamburg im Bereich experimentelles und soziales Design bei Prof. Jesko Fezer, Rosario Talevi und Jeanne van Heeswijk absolviert. Zudem ist sie Kollektivmitglied der Experimentellen Klasse und künstlerische Mitarbeiterin im Studiengang Informationsdesign an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle.
Die Bücheria – eine feministische und queere Stadtteilbibliothek befindet sich im Erdgeschoss des Wohnprojektes RIA in Hamburg Wilhelmsburg. Am Ort des ehemaligen Stadtteilkinos Rialto im Vogelhüttendeich hat sich 2021 ein Kulturzentrum gegründet, welches feministischen Initiativen und Belangen einen Raum für Austausch und soziales Miteinander ermöglichen will. Anna Unterstab wurde für ihre Initiative zur Bücheria im September 2023 mit dem German Design Graduates Award (Gesellschaft und Gemeinschaft ) ausgezeichnet. Das Team der Bücheria besteht zurzeit aus: Johanna Auschra, Jana Harlos, Ariane König, Sarah Just, Josefine Taape und Anna Unterstab.
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Dieses Interview erschien zuerst in der Oktoberausgabe 2023 des Lerchenfeld-Magazins.