Versehrte Landschaften
Zum Sommersemester 2022 hatten Kunststudierende aus der Ukraine die Möglichkeit, sich um ein Gaststudium an der HFBK Hamburg zu bewerben. Es ging bei der kurzfristig eingerichteten Initiative darum, Studierenden mit Projekten und Interessen im Bereich des Studienangebots der Hochschule, die ihr Land kriegsbedingt verlassen mussten, in einem unkomplizierten Aufnahmeverfahren Raum für ihre künstlerische Arbeit und Forschung zu geben und ihr Studium weiterzuführen – und damit auch ein praktisches Zeichen der Solidarität zu setzen. Als eine der ersten Kunsthochschulen in Deutschland hat die HFBK Hamburg seitdem 21 Studentinnen aus der Ukraine aufgenommen, die sich jeden Dienstag zu einem Seminar treffen, das dem Austausch untereinander und dem Ankommen in der Stadt gewidmet ist. Zeitlich wurde es so gelegt, dass keine anderen Lehrveranstaltungen verpasst werden, denn alle studieren in den Fachklassen der Kunst- und Theorieprofessor*innen der jeweiligen Studienschwerpunkte. Dass ausschließlich junge Frauen gekommen sind, verweist auf die archaische Gewalt des Krieges, der keineswegs hinter den Studentinnen liegt: Jede hat Familienangehörige und Partner zurücklassen müssen. Dennoch sind sie voller Pläne, wie sie ihre Studienzeit in Hamburg nutzen wollen. In den ersten zwei Monaten stellten sich jede Woche neu hinzugekommene Studentinnen mit einer Präsentation ihrer Arbeit vor. Ab Juni begannen die Planungen zur gemeinsamen Ausstellung der „ukrainian class“, wie die Teilnehmerinnen das wöchentliche Treffen nennen, im Rahmen der Graduate Show im Juli. Auch im Hinblick auf die Ausstellung stellt sich die Frage, inwieweit es möglich ist, sich künstlerisch mit der Situation in der Ukraine auseinanderzusetzen. Dazu gebe es in der Gruppe unterschiedliche Haltungen, sagt Kathrin Wolf, die das Seminar als Lehrbeauftragte betreut, zusammen mit dem Masterstudenten Wassili Franko, der selbst ukrainische Wurzeln hat. „Einige sagen, sie können sich nur noch mit dem Krieg beschäftigen und auch nur mit Künstler*innen, die Krisen zum Thema machen, weil ihnen alles andere sinnlos vorkommt“, so Wolf, „andere meinen, die Realität sei so schwer zu ertragen, dass sie sie aus ihrer künstlerischen Praxis möglichst heraushalten wollen oder sogar müssen. Eine Filmstudentin hat mir erzählt, dass sie auf einem Festival einen Dokumentarfilm mit Bildern von ukrainischen Landschaften vor dem Krieg gesehen habe und schon darauf habe sie so ungeahnt heftig reagiert, dass sie wusste, dass sie diese Grenze nicht überschreiten sollte“. Davon unabhängig gibt es bei einigen ein großes Interesse, ukrainische Geschichte, Kunstgeschichte und kulturelle Traditionen in die Arbeit einzubeziehen, sagt Wolf. So hatte eine Studentin beispielsweise die Idee, volkskundliche Ornamente in zeitgenössisches Grafikdesign zu integrieren.
Die 21 Gaststudentinnen haben zuvor an verschiedenen Institutionen in der Ukraine in unterschiedlichen Studiengängen und künstlerischen Sparten studiert, viele davon Film oder Grafikdesign und im letzteren Fall häufig im angewandten Bereich. Einige haben einen Abschluss, andere versuchen parallel, ihr Studium online an ihren Heimat-Universitäten zu absolvieren. Bitter ist es, zu erfahren, dass für die meisten von ihnen die Flucht schon seit Beginn der russischen Aggression auf der Krim und im Donbass – also schon seit ihrer Kindheit – zu ihrer Biografie gehört. Lesya Hudz zum Beispiel musste 2014 mit ihrer Familie Luhansk verlassen und nach Kiew ziehen. Dort studierte sie Grafikdesign an der Universität. Mit dem Satz „We have to build our lives from scratch.“, spricht sie etwas aus, das alle denken. Nach ihrem Grafik-Abschluss hat sie ihr Interesse für Kunstgeschichte entdeckt und studiert jetzt im Studienschwerpunkt Theorie und Geschichte bei Prof. Astrid Mania. Kristina Shuster und ihre Schwester Vlada haben in Lviv an der Universität einen Bachelor in Grafikdesign abgeschlossen. Kristina studiert nun Digitale Grafik in der Klasse von Prof. Christoph Knoth und Prof. Konrad Renner, beschäftigt sich in der „ukrainian class“ aber auch mit Malerei. Vlada studiert Zeitbezogene Medien bei Prof. Angela Bulloch. Kateryna Uvarova hat in Charkiw Kommunikationswissenschaften studiert und sich nach dem Bachelor selbstständig gemacht. Sie und ihr Team hatten sich auf die Produktion von Taschen spezialisiert. An der HFBK Hamburg, die sie bereits durch einen Besuch der Graduate Show 2019 kannte, studiert sie nun zum ersten Mal ein künstlerisches Fach: Fotografie in der Grundlagen-Klasse von Prof. Heike Mutter. „Fast zu frei“ sei ihr das Studium an der HFBK am Anfang vorgekommen, sagt die erst 18-jährige Nadiia Mykhailuk. In Kiew hat sie bereits eine Ausbildung als Grafikerin hinter sich, jetzt studiert sie in der Grundlagen-Klasse Malerei/Zeichnen bei Prof. Abel Auer. Am Anfang habe sie nicht malen können, sagt sie. Alle Bilder, die entstanden, hatten mit Krieg zu tun. Sie hat nicht alle aufgehoben. Sie will weiter studieren, träumt aber davon, für ein paar Wochen ihre Familie in Cherson besuchen zu können, Großeltern, den Vater und Stiefvater.
Das Gefühl, selbst in Sicherheit zu sein und etwas Neues zu beginnen, während die Angehörigen in der Ukraine zurückbleiben mussten, belastet alle. „Wir sind noch jung, wir können unser Leben noch von Grund auf ändern, aber viele Mitglieder unserer Familien können das nicht mehr“. Für sie sind es konkrete Erfahrungen, dass ältere Menschen sich weigern, bei Luftalarm den Keller aufzusuchen, oder körperlich nicht mehr dazu in der Lage sind. Ihnen bleibe nur die „zwei-Wände-Regel“, sagt Kristina Shuster, also den Teil der Wohnung aufzusuchen, der möglichst weit weg von der Fensterfront, hinter mindestens zwei Wänden liegt. „I feel guilty that we’re safe“, sagt Nadiia Mykhailuk, die mit ihrer Mutter, drei jüngeren Schwestern, einem Hund und mit Freunden der Familie in zwei Autos über Ungarn nach Deutschland geflohen ist. Die kleine Stadt Chmelnyzkyj in der Westukraine zwischen Lviv und Kiew gelegen, wo ihre Familie wohnt, ist zu einer wichtigen Oase der humanitären Hilfe für den Osten des Landes geworden, erzählen Kristina und Vlada Shuster. Clubs und Bars sind zu Unterkünften geworden und ihre Betreiber*innen kochen für die Geflüchteten und Kämpfer*innen. Tattoo-Künstler*innen stechen gratis Tattoos – als Empowerment. Daria Maiier, Vlada Shuster und viele andere verfolgen die Blogs ukrainischer Künstler*innen, die im Land geblieben sind und versuchen, auf ihre Art den Widerstand zu unterstützen. Ein prominentes Beispiel ist Nikita Kadan, der weltweit ausgestellt hat und jetzt sein Studio in einen ehemaligen sowjetischen Bunker in Kiew verlegt hat, Editionen herausbringt, um mit den Einnahmen Geflüchtete aus dem Westen des Landes zu unterstützen und ein Programm mit Kurzfilmen von ukrainischen Künstler*innen zusammengestellt hat, das in verschiedenen europäischen Städten zu sehen war. Überlegungen, wie sie auch von Deutschland aus mit künstlerischen Mitteln etwas für die Ukraine tun können, fließen in die Planungen zur Abschlussausstellung mit ein. Und die sind in vollem Gange. Auf großen Papierbögen werden Konzepte entworfen, in der Gruppe besprochen, zum Teil wieder verworfen, oder genauer ausgearbeitet. Die Ergebnisse werden dann im Juli zu sehen sein.
Dieser Text von Julia Mummenhoff erschien zuerst im Lerchenfeld Nr. 62.