Schönheit, die nicht enden will
Ein Text von Julia Mummenhoff.
Vermutlich liegt es in der hybriden Natur des Ornaments selbst, dass sich in der Pracht, die sich auf dem Flur im zweiten Stock des MK&G ausbreitet, auch eine Fülle an Möglichkeiten entfaltet, Zugänge zu finden und Zusammenhänge herzustellen. Eine davon könnte das Wissen sein, dass die Kunstgewerbeschule –die Vorgängerinstitution der HFBK Hamburg – vor ihrem Umzug in das heutige Gebäude am Lerchenfeld 1913 in den Räumen des Museums untergebracht war. Dessen Gründungsdirektor Justus Brinckmann war ein leidenschaftlicher Sammler von Ornamentstichen, die später als Teil der so genannten Vorbildersammlung den Grundstock der Sammlung des Museums bilden sollten. Brinckmann wollte angehende Gestalter*innen wie auch die gesamte Öffentlichkeit geschmackbildnerisch schulen und verfolgte dieses Ziel nicht nur über die Exponate des Hauses, sondern über dessen gesamte Anlage. So wird ganz am Anfang der Schau das Gebäude selbst ausgestellt: Ein Spiegel an der Wand lenkt die Aufmerksamkeit der Besucher*innen auf ein gestalterisches Element des Innenhofs, das sonst kaum auffällt. Es ist die vollständige Fassade eines Bürgerhauses aus dem 17. Jahrhundert, das nach seinem Abriss in die Fassade des Museums eingelassen wurde – als ornamentales wie architektonisches Vorbild. Sie weist in ihrer Gestaltung typische Elemente der im Norden verbreiteten Weser-Renaissance auf. Sie gehen zurück auf den westfriesischen Maler und Architekten Hans Vredeman de Vries, dessen gedruckte Vorlageblätter Teil der Sammlung Brinckmanns wurden.
Die Sammlung, die neben antiken und volkskundlichen Exponaten, Kompendien aus verschiedenen Epochen der europäischen Kunstgeschichte auch einzelne Blätter herausragender Urheber wie Albrecht Dürer enthält, zeigt in ihrer Vielseitigkeit, dass die Bedeutung des Ornaments fast immer über die ihm zugeschriebene schmückende Funktion hinausreicht. Denn das Dekor formuliert eine eigene Bildebene, in der sich Formen anhand von Vorbildern über Jahrhunderte und Kontinente hinweg tradieren. Die überbordenden Pflanzen- und Tierwelten antiker Wandmalereien finden sich in den Grotesken Raffaels in den 1510-20 entstandenen Stanzen des Vatikans wieder. Überliefert und in der Ausstellung vertreten sind sie durch Drucke von Giovanni Ottaviani, die mehr als 200 Jahre später entstanden.
Solche Wege eines Transfers der Formen hat die Kuratorin Joanna Klysz-Hackbarth in der Ausstellung offengelegt, unter anderem, indem sie Schülerarbeiten aus dem Archiv des MK&G und dem Archiv der HFBK Hamburg einbezogen hat. Neben dem Studium der Natur, das insbesondere Richard Meyer während seiner Amtszeit als Direktor (1905-1929) intensiv förderte, war das Arbeiten nach Artefakten aus der Sammlung des Museums maßgeblich für die Entwicklung gestalterischer Fähigkeiten. Für ausgewählte Schülerarbeiten konnten die Vorbilder aus der Sammlung identifiziert werden und sind nun zusammen mit ihnen zu sehen. Ein Blick auf die mitgegebene Sammlungsgeschichte der Objekte bestätigt: Die Daten des Erwerbs und der Entstehung der Schülerarbeiten liegen eng beieinander – es wurde also offenbar nach den Neuzugängen und somit nach den neuesten Standards gearbeitet.
Eng mit der Geschichte des Ornaments verwoben ist der Wechsel zwischen Befürwortung und Ablehnung, in dem Adolf Loos‘ Schrift Ornament und Verbrechen von 1908 eine der Extrempositionen einnimmt. Die zu allen Zeiten geführten, leidenschaftlichen Debatten um Sinn und Notwendigkeit von Ornamenten bilden sich in der Ausstellung ab. In Wellen führten sie immer wieder zu einer Renaissance des Ornaments, wie etwa in den 1980er Jahren mit den verspielten Möbeln und Objekten der Mailänder Gruppe Memphis. Auch ein erst kürzlich erschienener Bildband über die neue Lust am Dekor liegt zum Blättern bereit und erfreut sich großer Beliebtheit bei den Besucher*innen.
Einer jungen Generation von Künstler*innen und GestalterInnen scheint es zu gelingen, die besondere Bedeutungsebene des Ornaments inhaltlich in für Arbeiten zu nutzen – dies zeigen zwei Positionen von Absolventinnen der HFBK Hamburg. Die Banner von Anne Meerpohl (Master-Abschluss 2022 bei Prof. Jutta Koether, Prof. Dr. Astrid Mania) und ANna Tautfest (Promotion 2023 bei Prof. Dr. Hanne Loreck) verbinden Gesten der Fürsorge zu einer ornamentalen Struktur. Entstanden sind sie für das Reeperbahn Festival 2022, um auf die Publikation Kanon der von 2019 bis 2021 bestehenden Experimentellen Klasse der HFBK Hamburg aufmerksam zu machen, in der Anne Meerpohls Zeichnungen von fürsorgenden Händen als Illustrationen auftauchen. In ganz ähnlicher Weise, wie die Tapetenentwürfe der Arts and Crafts Bewegung im 19. Jahrhundert Pflanzenmotive zu bis ins Unendliche fortsetzbaren Mustern verbanden, fügen die Banner Handgriffe der Care-Arbeit zu einem nicht enden wollenden Raster zusammen und verweisen so auf den sich wiederholenden Charakter von Fürsorge-Arbeit. Sie bewegen sich dabei innerhalb von überlieferten Bildern: Die Allegorie der Caritas, der Tugend der Fürsorge und Nächstenliebe ist ein häufiges Motiv in Ornamentstichen so auch in dem Entwurf eines Schalenbodens des belgischen Kupferstechers Theodor de Bruy von 1558. Auf die Tradition von Vanitas-Motiven bezieht sich die konzeptuelle Designerin Anna Resei (Bachelor-Abschluss 2018 bei Prof. Dr. Jesko Fezer, Prof. Dr. Friedrich von Borries). Ihre Objekte spiegeln das durch den Klimawandel und steigende Meeresspiegel hervorgerufene Spannungsfeld zwischen Anpassung und Migration wieder. Die Oberflächen ihrer, die Form von Truhen aufgreifenden, mobilen Möbel bilden fluide, am Computer generierte Muster, die auf den Dekoren antiker Scherben aus der Sammlung basieren und an die Fragilität des Lebens wie der Kultur erinnern. Was wäre, wenn es keine Menschen mehr wären, die Muster wahrnehmen und in Beziehung setzen? Das lässt sich mit dem Ornament Explorer von Michal Čudrnák, Philo van Kemenade und Igor Rjabinin erkunden. Über ein Tablet können sich die Besucher*innen durch die gesamte, unter dem Schlagwort Ornament 12.000 Objekte verzeichnende Datenbank des MK&G klicken und mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz ganz neue Bezüge zwischen den digitalisierten Objekten herstellen. So reist das Ornament aus der Gegenwart heraus in eine noch nicht geschriebene Zukunft.
Julia Mummenhoff ist an der HFBK Hamburg seit 2009 als Redakteurin und Autorin für Publikationen zuständig sowie seit 2014 für das Hochschularchiv.
13.19.2023 – 28.4.2024
Das Ornament. Vorbildlich schön
G. Brandt [Anmerkung der Redaktion: Der genaue Vorname ist nicht bekannt], Anne Meerpohl, Anna Resei, ANna Tautfest u.a.
Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg
www.mkg-hamburg.de
Der Artikel erscheint in der April-Ausgabe des Lerchenfeld-Magazins.