"la forma è tutto" - zum Tode des Designers Enzo Mari
Enzo Mari war Architekt, Autor, Denker, Designer, Forscher, Grafiker, Lehrer, Künstler, Kritiker und seit 2000 Ehrenprofessor an der HFBK Hamburg. Am 19. Oktober ist er in Mailand verstorben. Ein Nachruf auf eine der prägendsten Persönlichkeiten der gestaltenden Welt von Andreas Glücker.
1932 im norditalienischen Novara geboren, studierte Enzo Mari von 1952 bis 1956 Literatur und Kunst an der Accademia di Belle Arti di Brera in Mailand. Mit mittelmäßiger Begeisterung: „Ich war immer kurz davor, zu wechseln. Ich stellte zu viele Fragen.“ Offensichtlich fand er nicht das, was er als Grundlage für sein Schaffen suchte. So widmete sich Mari während dieser Zeit verstärkt eigenen Studien. Maris Aufmerksamkeit galt zunächst der Erforschung der Psychologie der Idee und der Psychologie der visuellen Wahrnehmung. Ähnlich einem Sprachwissenschaftler – er untersuchte und sezierte die Sprache der visuellen Künste – widmete er sich ab Mitte der 1950er Jahren zunehmend dem Design. In den 1960er und 1970er Jahren weitete er seine Forschungen auf Ideenentwicklungen zu neuen Planungsstrukturen aus, beschäftigte sich mit der Methodologie des Designs, mit der Rolle von Objektdesign im Alltag und der Funktion des Designers für unsere Welt – sozialtheoretische Aspekte gewannen zunehmend Bedeutung für sein Werk. 1963-66 lehrte Enzo Mari an der Scuola Umanitaria in Mailand.
Mari startete seine Karriere als Designer nicht mit konkreten Produkten sondern mit Studien und Wahrnehmungsmodellen zur Erforschung von Struktur, Farbe und Perspektive – die ersten Arbeiten waren stark von der Metaphysischen Malerei Giorgio De Chiricos beeinflusst – widmete er sich in den ausgehenden 1950er und 1960er Jahren Logiken unterschiedlichster Materialien, um Merkmale maximaler Effizienz zu finden. In Serie della natura (1963-76), einer Reihe monochromer, Scherenschnitt artiger Grafiken von Früchten und Tieren und dem Calendario von 1962 manifestierte sich das Interesse an der einfach(st)en Form. Von der einfach(st)en Form näherte sich Enzo Mari der Erforschung der komplexen Form an, mit Hilfe literarischer, metaphorischer Annäherungsperspektiven. Signifikant ausgewiesen wird diese Phase durch Serie elementare – sistema di 27 piastrelle maiolicate von 1968 für Gabbianelli – einer Serie von 27 Fliesen mit unterschiedlich dichten Linien- und Punktstrukturen, mit denen sich perspektivische Räume bauen und erzählen lassen. Eine zweite Ebene innerhalb der Erforschung der komplexen Form bilden Untersuchungen zu Fügungen, Kopplungen und Gelenken. Symptomatisch für diese Werkphase ist das Systemregal Glifo (1966-67), ein Regal aus weißen Kunststoffplatten mit den Maßen 35 x 35 cm, welche über eine ausgearbeitete, intelligente Zahnleiste ohne weitere Hilfsmittel zusammengesteckt werden. Mit dem 1977 entworfenen Projekt 44 valutazioni wird Maris Interesse an der Erforschung der integralen Form sichtbar – das Teil wird als Teil eines Ganzen gesehen. 44 amorphe, hölzerne Formteile stehen jeweils in ihrer freien – künstlerisch anmutenden – Schönheit für sich. Zusammengelegt können elf allgemein lesbare Symbole erzeugt werden – etwa das Symbol des Kommunismus (dessen Idealen sich Mari übrigens verpflichtet fühlt): Hammer und Sichel.
Die sichtbarsten und radikalsten Aktivitäten in Maris Schaffen entstanden in den 1970er Jahren, in denen er die Möglichkeiten des Gestaltens als erzieherische – wenn man so will weltverbessernde – Komponente für unsere Umgebung thematisierte. In Proposta per un’autoprogettazione (1974) entwickelte er eine Serie von 19 einfachen Möbeln zum Selberbauen. Über einen rückfrankierten Briefumschlag erhielt man über Maris Büro kostenlos eine einseitige Bauanleitung – bestehend aus einer Materialliste und Zeichnungen. Einfache Holzbretter ließen sich mit einem Hammer und ein paar Nägeln schnell zusammenbauen. Damit gab Mari den wesentlichen Impuls für eine Do-it-yourself-Bewegung im Design, die heute mehr denn je floriert. Zum anderen hinterfragte und kritisierte er mit diesem Vorschlag gängige Konsum-, Produktions- und Distributionsmechanismen der Designwelt.
Sein Werk umfasst über 2000 Projekte und spannt sich über alle Genres des künstlerischen, grafischen, räumlichen und objektbezogenen Gestaltens. Neben seinen DIY-Projekten und -Produkten und Serienprodukten für namhafte Designhersteller entwickelte Mari Kunstausstellungen, Markenarchitekturen, Markenräume, Kinderbücher, prototypenhafte Maschinen zur Reflexion und Erprobung von Wahrnehmungsgewohnheiten, Poster, Grafiken, comichafte Dialoge als Miniaturtheater und baute Busse zu Bibliotheken um.. Kurzum: Es gibt kaum etwas, was Mari nicht entworfen hat. Sein Werk ist von einer beispiellosen Vielfalt und sprühenden Neugierde rund um das Thema des universellen Gestaltens geprägt und ist in engem Kontext der Mailänder Architektur-, Design- und Kunstszene zu sehen: Achille Castiglioni, Marco Zanuso, Vico Magistretti, Bruno Munari, Ettore Sottsass Jr. und den Künstlerkollektiven Gruppo T, Gruppo N und Movimento per l’arte concreta (MAC).
Seine Arbeiten wurden auf den Biennalen von Venedig in den Jahren 1967, 1979 und 1986 und der documenta 4 in Kassel 1968 präsentiert und unter anderem mit vier Compassi d’Oro der Triennale von Mailand ausgezeichnet. Trotzdem hat Maris Werk noch nicht den Platz in der Designgeschichte, den es auf Grund seiner Qualität, seinem Innovationspotential und seiner Radikalität haben müsste. Ein Grund dafür könnte darin liegen, dass Maris Werk durch seinen Facettenreichtum schwer einzuordnen ist, seine Projekte im Vergleich zu denen seiner Mailänder Kollegen – Castiglioni, Zanuso, Magistretti, Munari und Sottsass – sperriger erscheinen und er einmal eingeschlagene, erfolgreiche Wege gerne wieder verließ. Mari war einer, der den Dingen auf den Grund ging, ein unbequemer Geist, der ständig neue Herausforderungen suchte, der Prototyp eines forschenden Praktikers, er war genialer Nonkonformist.
2016 hatte er angekündigt, sein Gesamtwerk der Stadt Mailand zu vermachen. Unter einer Bedingung, die zu seiner kantigen Persönlichkeit zu passen scheint: Es darf für 40 Jahre nicht öffentlich gezeigt werden!
Nur zwei Tage vor seinem Tod eröffnete noch eine Retrospektive zu eben diesem Werk – kuratiert von Hans Ulrich Obrist und Francesca Giacomelli. Die Ausstellung auf der Mailänder Triennale – noch zu sehen bis 18. April 2021 – wird nun zum Vermächtnis seiner lebenslangen Suche nach einer besseren Welt, im politischen, sozialen wie gestalterischen Sinne.
Nur einen Tag nach Maris Tod vermeldeten die italienischen Zeitungen, dass auch seine Frau, die renommierte Kunstkritikerin und Autorin Lea Vergine im Alter von 82 Jahren gestorben ist. Sie zählte zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der italienischen Kunstkritik. Bekannt war sie vor allem durch ihre Essays über Body-Art und Performance, zusammengefasst in Il corpo come linguaggio (The Body as Language). Die Design- und Kunstwelt verliert mit Vergine und Mari zwei geniale, kritische Denker*innen – ihre Ideen bleiben! Wir dürfen uns schon jetzt auf den Zugang zum Mailänder Archiv freuen. In 40 Jahren ist es soweit!
Andreas Glücker ist Architekt. Zurzeit promoviert er an der HFBK Hamburg bei Prof. Dr. Friedrich von Borries und Prof. Jesko Fezer über Enzo Mari.