Reading List Lerchenfeld HFBK Nr. 66
The Collective Eye, Im Gespräch mit ruangrupa. Überlegungen zur kollektiven Praxis, Distanz Verlag, 2022
Ein Kollektiv interviewt ein Kollektiv: Beide verorten sich in der kuratorischen Praxis, arbeiten interdisziplinär in wechselnden Konstellationen und Bestzungen. Unterschiedliche Mitglieder von ruangrupa kommen zu Wort und bringen individuelle Sichtweisen auf ihre Arbeit ein. Das Gespräch folgt keiner Chronologie oder einer (erkennbaren) Struktur, vielmehr kreist es um zentrale Aspekte in der Arbeit von ruangrupa: lumbung, Gudskul und das Leben in Jakarta. Die einzelnen Mitglieder berichten über ihre jeweiligen Beweggründe, sich dem Kollektiv anzuschließen und ihr Verständnis von der Arbeit in einem Kollektiv. Sehr präsent ist in diesem Buch auch die politische Situation Indonesiens sowie die individuellen (künstlerischen) Lebensläufe der Mitglieder. Ihre Arbeit für und an der documenta fifteen – das wird sehr anschaulich deutlich – ist nur ein Projekt unter vielen: „Wie die documenta eine Ressource für uns ist, so ist ruangrupa eine Ressource für die documenta.“
What, How and for Whom, Kollektive Kreativität, Revolver Books, 2005
Das Kurator*innenkollektiv What, How and for Whom (Ivet Ćurlin, Anna Dević, Nataša Ilić und Sabina Sabolović) hat 2005 in der Kunsthalle Fridericianum eine umfangreiche Gruppenausstellung zu Künstler*innen-Kollektiven kuratiert. Damals reagierten sie auf das zunehmende künstlerische Interesse an kollektiver Arbeit –ein Trend, der bis heute anhält oder zumindest in Wellen verläuft. Was an dieser Ausstellung und der begleitenden Publikation so besonders und deshalb auch heute noch relevant ist, ist die starke Konzentration auf Kollektive aus Ost- und Mitteleuropa sowie aus Lateinamerika. Kaum jemand hatte vor dieser Ausstellung von dem russischen (und heute in Berlin lebenden) Künstler*innenkollektiv Chto delat (What Is to Be Done?) gehört, oder kannte das Künstler*innenkollektiv Oda Projesi aus Istanbul, welches wir auch in dieser Lerchenfeld-Ausgabe ausführlich vorstellen. Neben der Darstellung der unterschiedlichen künstlerisch-kollektiven Ansätze, widmen sich die Textbeiträge zum Beispiel der Fluxus-Bewegung, dem Ende von Kollektiven aus psychoanalytischer Sicht oder dem heute omnipräsenten Begriff der „Commons“.
Heike Eipeldauer, Franz Thalmair: Kollaborationen, Buchhandlung Walther König, 2022
Die Publikation zur gleichnamigen Ausstellung im mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien, widmet sich den zahlreichen Formen künstlerischer Zusammenarbeit – zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die jüngste Gegenwart. Das beinhaltet die Projekte von Künstler*innen-Duos, Künstler*innen-Gruppen oder auch einzelnen Künstler*innen, die für besondere Projekte mit anderen zusammengearbeitet haben. In ihrem zentralen Essay geht die Kunsthistorikerin Rachel Mader, die sich schon vielfach mit dem Thema beschäftigt hat, auf die unterschiedlichen Begrifflichkeiten ein und stellt fest: „Als ‚Kollaboration’ wiederrum wird mit Bezug auf die Verwendungsweisen im Englischen, wo dem Begriff anders als im Deutschen, keine militärische Konnotation innewohnt, ein ausgreifendes Verständnis von Zusammenarbeit verstanden, in die nebst unterschiedlichen Personen auch Objekte oder andere Entitäten (etwa Institutionen) eingebunden sein können.“ Dieses sehr weit gefasste Verständnis von Zusammenarbeit führte – wie die zahlreichen künstlerischen Beispiele im Katalog belegen – zu fruchtbaren Ergebnissen.
Till Krause (Hrsg.), Bekanntmachung der Idee der Freien Flusszone /Public Notice: The Free River Zone, 2022
Seit 1992 erforscht die Galerie für Landschaftskunst (GFLK) als Projektraum und Künstler*innen-Netzwerk Vorstellungen von dem, was Landschaft ist und sein könnte, unter der Prämisse eines sehr weit gefassten Landschaftsbegriffs. Gegründet und betrieben von den HFBK-Absolvent*innen Till Krause, Florian Hüttner und Anna Guðjónsdóttir arbeitet die GFLK in unterschiedlichen Konstellationen und Kooperationen mit internationalen Künstler*innen zusammen, für das Projekt City as a Map of Ideas beispielsweise mit Matt Mullican, für das 2011 gestartete Projekt Freie Flusszone Süderelbe, das diese Publikation dokumentiert, unter anderem mit den Künstler*innen Bob Braine, Clegg & Guttmann, Mark Dion, Tue Greenfort, Klara Hobza, Katja Lell sowie Expert*innen und Wissenschaftler*innen. Bei Hamburg spaltet sich die Elbe für einige Kilometer in zwei Arme, beide sind zu kanalähnlichen Schifffahrtsstraßen umgebaut. Wäre es angesichts dieser Doppelung möglich, einen Teil des einen Arms aus der ökonomischen Nutzung zu lösen? Was würde geschehen und welch ein neuartiger Stadt- und Landschaftsraum könnte sich entwickeln? Im Rahmen des Projekts wurde der sieben Kilometer lange Abschnitt der Süderelbe zwischen Elbbrücken und Bunthäuser Spitze zur Freien Flusszone erklärt und diese Setzung über viele Jahre durch künstlerische Interventionen und Aktionen in der ganzen Stadt bekannt gemacht. So breiteten sich Bilder dieser Idee aus und gewannen Präsenz. In diesem üppigen Band mit 2000 Abbildungen sind sie zusammengefasst. Er kann gratis gegen Erstattung der Versandkosten unter freieflusszone@t-online.de bestellt werden – eine Spende für die Freie Flusszone ist willkommen.
Hans-Christian Dany, Ulrich Dörrie, Bettina Sefkow (Hrsg.): dagegen – dabei. Texte, Gespräche und Dokumente zu Strategien der Selbstorganisation seit 1969, Kellner Verlag, 1998
Hervorgegangen aus einer gleichnamigen Ausstellungsreihe im Hamburger Kunstverein Mitte der 1990er Jahre hat sich die zum Ende des vorigen Jahrtausends erschienene Publikation von ihrem temporären Anlass gelöst und bietet anhand einer Fülle von Materialien, Dokumenten, Gesprächen und Fotos einen umfassenden Einblick in die Anfänge künstlerischer Selbstorganisation in Hamburg und – da es um Netzwerke geht – auch darüber hinaus. Als konstruktive Antwort auf das institutionskritische „dagegen“ entstanden Kollektive, Gruppen und partizipative Orte als Formen eines „dabei“. Zu Recht spielt die Buch Handlung Welt, die Hilka Nordhausen von 1976 bis 1983 im Hamburger Karolinenviertel mit zahlreichen Mitstreiter*innen führte, darunter auch die beiden Herausgeber*innen Ulrich Dörrie und Bettina Sefkow, eine zentrale Rolle. Mit dem Merve Verlag, den Anfängen von Park Fiction, oder den Redaktionen von Fanzines wird eine große Bandbreite an – zum Teil heute noch existierenden – selbstorganisierten Netzwerken, Läden und Publikationsformaten in Deutschland und Österreich untersucht. Es lohnt sich also, das Buch mit dem kämpferisch-roten Umschlag immer einmal wieder zu konsultieren.