Die neue string figures-Kolumne:
Zieht eure T-Shirts aus
Ich treffe nach langer Zeit einen guten Bekannten. Er geht seinen Weg als Fotograf sehr gut. Schon jetzt eine klassische Karriere von der man weiß, sie wird groß weitergehen, denke ich. Es erfreut mich, seinen Weg zu beobachten. Ein renommiertes Architekturmagazin zeigt erneut seine Serie und ein Bild ziert das Cover. Wenn es nicht ein Freund wäre, hätte ich mich vielleicht über das Cover geärgert. Nun stehe ich ambivalent zu der ganzen Sache. Einerseits freue ich mich für ihn, sehr! Anderseits aus meiner Perspektive: auf dem Magazin ist eine schwarze Frau in Nigeria zu sehen, sie hält ihr leuchtendes Handy und sitzt vor brennenden Feldern. Sie schaut direkt in die Kamera. Ich weiß, dass ein weißer Mann dieses Bild gemacht hat, der sich anders in unserer Welt bewegen kann als ich. In dem Magazin, ich habe nachgezählt (sorry), sind 30 Beiträge von Männern, drei aus gemischten Gruppenprojekten und drei (!) Beiträge von Frauen. Das Magazin steht für eine Architektur, die Gesellschaft, Umstände und Welt mitdenkt, aber in der Umsetzung bin ich regelmäßig enttäuscht von der Autorenschaft. Hier kann ich das Gendersternchen nämlich gleich stecken lassen.
Ich schaue gelegentlich nach Kunst- und Literaturstipendien. Das sind größtenteils Aufenthaltsstipendien. Neulich war eins für Hamburg ausgeschrieben. Das mare - Künstlerhaus, die ehemalige Villa des Autors Roger Willemsen wird für kurze Sommerresidenzen zur Verfügung gestellt. Per Mail frage ich nach, ob ich meinen Sohn mitbringen darf. Die Antwort der Referentin: „Sehr geehrte Frau Schäfer, wir freuen uns natürlich über Ihr Interesse an dem Stipendium in der Villa Willemsen. Leider muss ich Ihnen aber mitteilen, dass bei diesem Stipendium eine weitere Reduzierung der Anwesenheitspflicht nicht möglich ist. Zudem können wir einer Mitnahme von Kindern aufgrund der räumlichen Gegebenheiten nicht zustimmen.“ Eine Freundin von mir fragt unabhängig auch nach und bekommt die Antwort „Haben Sie sich mit Frau Schäfer abgesprochen?“ Eh. Ok. (Mein Sohn war übrigens schon mal in dieser Villa und ist über den Teppich gekrochen und durchs Haus geflitzt, hat von deren Tellerchen gegessen und von deren Becherchen getrunken. Ha!) Ich versuche es dann manchmal trotzdem mit den Bewerbungen, schlage alternative Konzepte vor, die für mich funktionieren könnten, aber das klappt fast nie. Es gibt tolle Stipendien, wie das Stadtschreiberstipendium in Dresden. Könnte sogar meinen Sohn mitbringen, den betreuen lassen. Aber dann müsste ich eine sechsmonatige Fernbeziehung führen, mein Freund oder ich müssten Abstriche dabei machen, meinem Sohn beim wachsen und gedeihen zuzusehen. Mein Freund müsste, wenn mein Sohn hier bliebe, weniger Arbeiten und mein Geseier anhören, wie sehr ich ihn und den Kleinen vermisse. Andersrum: das Gleiche. Alles kompliziert und nur machbar für Alleinerziehende, Leute die in Leipzig wohnen oder einfach kein Kind haben.
Ich sitze auf dem Spielplatz mit anderen Eltern. Die Kinder spielen zusammen. Manchmal in gemischten Gruppen, manchmal in Jungs- und Mädchengruppen. Die Eltern reden die ganze Zeit von Jungen und Mädchen. Dabei höre ich eigentlich nur Negatives über das männliche Geschlecht: Jungs hauen sich (immer), Jungs ziehen sich immer aus, Männer ziehen sich immer aus, Jungs machen sich zum Horst, Jungs ärgern die Mädchen, Jungs hätten mit vier oder fünf Jahren Testosteroneinschuss. (Eine ehemalige Erzieherin hat uns das erzählt. Ich habe das nachgelesen. Es stimmt nicht. Es ist einfach falsch.) Jungs wären deshalb aggressiver als Mädchen, Jungs wären also von Natur aus aggressiv. Das sagten Eltern, die selbst Söhne haben. Die mir neulich erzählt haben, ihr Sohn stünde immer vor dem Legoladen und will Anna-und-Elsa-Lego haben, aber sie würde ihm doch kein Mädchenlego schenken.
Ich platze innerlich und atme tief durch. Diese ständige Reproduktion von Geschlechtervorstellungen im Alltag macht mich so traurig und wütend. Ich mag die Rolle ganz und gar nicht, immer die Mutter zu sein, die immer die unbequemen Rückfragen stellt, die von der Ausnahme erzählt, die von anderen Normen ausgeht … manchmal schweige ich mich dann aus. Diesmal atme ich noch ein zweites Mal durch. Recherchiere nochmal nach dem Testosteronartikel, erzähle von meiner Ansicht, dass das ein moderne Ammenmärchen ist, dass Geschlecht konstruiert ist und wir unsere Kinder durch und durch beeinflussen, dass die Gesellschaft uns durch und durch formt und dass Jungs nicht automatisch aggressiver sind als Mädchen (während ein Mädchen einen Jungen auf den Rücken schlägt), dass man so viele (Vor)Urteile reproduziert, wenn man über „Jungen“ und über „Mädchen“ spricht, dass die Kinder gar keine andere Chance haben als ausgetretene Pfade zu bestreiten.
P.S.: Muss an ein Lied denken. Hund am Strand, 2005.
Wir könnten einen Ausweg propagieren
Wir schocken die Systeme und sie könnten explodieren
Dann könnten wir die Liebe weitergeben
In andere und eigene Leben
Alle Jungen*, alle Mädchen*
Zieht eure T-Shirts aus
Yeah Yeah!