Auf rhizome.hfbk.net: Wer früh raus muss, muss auch früh ins Bett
Heute habe ich J. kennengelernt. Ich war auf dem Weg zu einem Termin, aber ich war, wie immer, zu früh losgegangen, es gab also keine Not. Der Mann*, ganz in orangefarbener Arbeitskleidung der Hamburger Stadtreinigung, räusperte sich erst einmal, dann ein zweites Mal, als ich an ihm vorüber ging. Mit einer Zange sammelte er gerade den Müll des vergangenen Wochenendes auf. Ich dachte, gleich kommt eine Ermahnung, bitte keinen neuen Unrat auf die gerade aufgeräumte Straße zu werfen aber das war nicht sein Anliegen: „Sie sehen klug aus und haben bestimmt Abitur“ sprach er leise und noch etwas unsicher. Zum ersten Punkt konnte ich wenig sagen, den zweiten bejahte ich aber wahrheitsgemäß. „Dann können Sie mir sicherlich sagen, wie ich mit Stress umgehen kann“ sprach er weiter. Ich blieb stehen, aber er bat mich, mit ihm ein Stück die Straße hinunterzulaufen, denn sie war noch lang und er allein, mit dem Müllsack und der Zange in beiden Händen. Meine erste Idee war, ihm zu sagen, dass Vollzeitarbeit leider zwangsläufig zu Stress führt und prinzipiell keine gute Idee für Menschen ist. „Armut führt aber auch zu Stress“, antwortete er und dass er froh sei, aus seinem Umschulungsprogramm und dem befristeten Vertrag endlich raus- und nun festangestellter Stadtreiniger zu sein. Der Punkt ging definitiv an ihn. Die Arbeitszeit sei auch nicht das Problem, meinte er: „Wer früh raus muss, muss halt früh ins Bett“.
Wir überlegten dann gemeinsam, was es denn dann sein könnte, das ihn so stresst. Und nach einigen Metern schweigendem Müllaufsammeln, immer geradeaus die Straße runter, fiel es ihm ein: „Es stresst mich, in der Öffentlichkeit zu stehen mit meiner Arbeit.“ Seit kurzer Zeit macht die Stadtreinigung eine Kampagne, die die Bürger_innen dazu auffordert, sich per Anruf, SMS oder Mail bei der Stadt zu melden, wenn sie finden, dass es irgendwo schmutzig ist. J. setzt das unter Stress, denn zum einen fühlt er sich den Steuergeldern der Anderen* und somit der Stadtsauberkeit verpflichtet, zum anderen gleitet die Narration seiner Arbeit von der notwendigen und konstanten Dienstleistung der Stadt und der Erhaltung ihrer Struktur über in die Beseitigung der Ärgernisse von Privatpersonen. Wenn J. und seine Kolleg_innen dann zum Aufräumen kommen, ist es per se schon zu spät, sonst hätte sich ja niemand beschwert. Aus dem Beitrag für die Stadt, wird die Beseitigung vergangener Fehlleistungen. So zumindest sein Gefühl. Ob er sich mit den Kolleg_innen darüber austauscht, wollte ich wissen. „Nee, keine Zeit“ und zeigte dabei auf die andere Straßenseite, auf der in weiter Ferne ein orangefarbener Punkt zu sehen war. „Der Kollege* macht die andere Straßenseite, da ist keine Zeit zum sprechen.“ Wir waren am Ende der Straße angelangt und ich musste weiter. Ich lud ihn ein, er solle doch mal mit seinen Kolleg_innen zu mir in die Bar kommen und sich über seine Sorgen mit den anderen austauschen. Denn Sprechen, das war im Endeffekt mein einziger Rat, ist immer gut und sich mit den anderen sprechend und solidarisch zusammenschließen noch besser. Seine Antwort war: „Vielleicht! Wer früh raus muss, muss auch früh ins Bett.“