Die Tresen-Kolumne: Traufgestaltungen
Traufgestaltungen
„ Das Verhältnis der Hamburger (sic) zur Baugestaltung ist widerspruchsvoll. Es stehen sich die aus Sempers und Schuhmachers Tradition erwachsenen sorgfältige innerstädtische Stadtbildpflege (Binnenalster-Verordnung) und eine stark liberal-merkantilistisch geprägte Haltung gegenüber, die sich beispielsweise in beliebig austauschbaren Einfamilienhausgebieten oder der Vernachlässigung innerstädtischer Plätze ausdrückt. […]. Die Hamburger Bauordnung enthält in §72 drei Absätze zur Baugestaltung, die mehr als „Nichtverunstaltungsklauseln“ zu sehen sind; dafür aber in §73 neun Absätze, die Werbung an Bauten und die Aufstellung von Automaten regeln. Hamburger Bebauungspläne weisen ein gleichermaßen wortkarges Verhältnis zur baulichen Gestaltung auf.[...] Das wachsende Unbehagen an sich mehrendem Gestaltungs-Wildwuchs führte allmählich zur Einsicht, daß Liberalität im Planungsprozeß als alleinige Grundlage zum Bauen wohl doch nicht ausreicht. [...].“ So beginnt Wolfgang Stabenow seinen Bericht über die Hamburg Bau '78 im Sammelband „Gestaltung und Satzung – Baufreiheit oder verordnete Baugestaltung“ aus dem Jahr 1982. Es geht um den Bauwettbewerb, den die Stadt Hamburg, betreut durch die Saga, damals auf einer Testfläche in Poppenbüttel ausrichten ließ. Es fällt heute kaum noch auf, viele Orte in Hamburg sehen heute so aus: ein Gefühl von deutschen Urlaubsorten antizipierend, die Postmoderne schon am Horizont aber noch beschränkt auf die Verwendung von Kunststoffteilen, die Glasflächen begrenzen, ineinander verschachtelter Terrassenbau mit großen Markisen, die aus dem Garten fast einen Innenraum werden lassen, deutsches Rimini, gebaut aus Klinker. Solche Siedlungen stehen auch in Norderstedt und Halstenbek und Fuhlsbüttel und Ochsenzoll etc. etc. Wolfgang Stabenow war nicht überzeugt. Immerhin die Traufhöhe sei halbwegs einheitlich gestaltet, konnte er dem Ganzen noch abgewinnen. Die Traufhöhe, das ist die Kante vom Dach, von der das Wasser auf den Boden oder in die Regenrinne fällt. Kommt man vom Regen in die Traufe, steht man einfach nicht ganz unter dem Dach, das gesammelte Wasser fällt einem in den Nacken. In Deutschland gab es mit dem Dachtraufrecht bis ins 17. Jahrhundert ein patriarchales Gerichtbarkeitssystem, welches dem Hausherren zugestand, gewisse Dinge, die unter seiner Traufe stattfanden, selbst zu regeln - eine staatlich legitimierte Einladung zur häuslichen Gewalt. Die Größe der Traufe bezog sich auf den Winkel, mit dem das Wasser vom Dach abläuft, war also größer als das tatsächliche Dach. Je schräger und größer die Fläche, umso größer das Gebiet des Regimes. Das historische Dachtraufrecht ist aber nicht zu verwechseln mit dem immer noch aktuellen Traufrecht. Dieses besagt, dass ein_e Hausbesitzer_in das Recht hat, das von der Traufe ablaufende Wasser auf das Nachbar_innengrundstück ablaufen zu lassen. Beide Rechte zusammen, ergeben ein deutsches Psychogramm, Grundbesitz wurde hier lange als Festung verstanden: Was davon abgewiesen wird, wird das Problem der anderen. Was sich darunter verirrt, kommt unter die Knute des Hausherren. Eine Gestaltungssatzung, die eine einheitliche Traufhöhe vorschreibt, ist dann schon fast ein demokratischer Akt.